Auf der Lauer nach der Fledermaus

16.05.2010Kultur erstellt von Shahla Baversad, Helmut N. Gabel

Ausschnitt aus dem Buch "Albtraumkater" von Shahla Baversad. Gelesen als Abrundung der Konferenz "Die Menschenrechte im Iran -Unterstützung der Zivilgesellschaft aus Europa" am 14. Mai in der Melanchthon-Akademie zu Köln.

Auf der Lauer nach der FledermausAuf der Lauer nach der Fledermaus

Wenn ich auf einem Weblog bin, schaue ich, ob ein neues Posting von dem Blogger gestellt wurde. Wenn das der Fall ist, lese ich es gespannt durch. Mit einem Klick auf das Skript 'Comments' erscheinen alle Besucherkommentare in dem Blog und ich erkenne mit meinen geübten Blick die neu eingetragenen sofort.

Heute Abend will ich als erstes auf das Blog "Steinzeitalter". Das letzte Posting fängt so an: «Ich verrecke langsam. Wo bleiben die Kindheitsfreundschaften! Wo...»

Ich hasse solches Posting. Ein Gefühl der Übelkeit entsteht sofort in meinem Bauch und ich würde am liebsten ins Gesicht des Bloggers kotzen. Dieses Jammern! Das selbstbemitleidende Lamentieren! Dieser Blogger ist auf eine ekelerregende Art schwach und gleichzeitig überheblich, so dass ich für ihn nichts außer Verachtung empfinde. Sein Klagen über die Welt und die Menschen, über die Zukunft und über Dämonen, die uns umgeben, über treulose Frauen und verständnislose Väter und Mütter, über dies und jenes findet nie ein Ende. Sein Blog riecht nach Pest, Unheil, nach Trauer.

Wenn dieser jämmerliche Miesmacher sich nicht so viel beklagt hätte, wäre das Ganze nicht passiert. Parand hätte keinen Kommentar hinzugefügt und wenn Parand keinen Kommentar hinzugefügt hätte, hätte Mehdi das auch nicht getan, und über den klugen schlauen Kopf Parands und über ihre feine Art zu schreiben kein Wort verloren und ich ...

Ach! Was erzähle ich denn da?! Dieses Spiel hat vor etlicher Zeit angefangen. Worüber will ich mich hinwegtrösten, hinwegbelügen?

Es ist wahr, dass dieses verdammte Posting einiges ans Licht geholt hat, aber ... Ja! Ich wusste es. Ich wusste es schon lange. Ich habe es gespürt. Warum will ich, kann ich der Wahrheit nicht ins Gesicht schauen? Sie wissen es ja, alle Leute! Alle Bewohner der virtuellen ekelhaften Welt der Blogtown. Natürlich! Natürlich kennen alle diese Geschichte. Allein meine Augenlider fallen am liebsten zu, wenn es um die Wahrheit geht. Meine! Genau meine!

Meine angeborene Angst vor der Wirklichkeit machte mich zu Recht zum verdienten Bewohner der Welt der Träumerei, der Welt der Wahrheit ohne Wirklichkeit. Das ist ein fortwährender Prozess und ich verstecke mich immer noch am liebsten in der Welt, die nicht einmal einen Hauch Ähnlichkeit mit dem Diesseits hat.

Schon Jahre ist es so. Seit ich mich kenne. Das hat sich verstärkt, nachdem das mit Mama passiert war; aber das war schon im Grunde genommen immer der Fall gewesen. Früher rettete mich diese Flucht vor den folternden Schmerzen, die die Erinnerung an den Tod von Mama in mir verursachte; Mamas Krankheit, die vor unseren kleinen Augen ihren Körper lebendig zerfraß. Wir mussten zusehen, wie ihr Leib lebend verweste und unsere Mama langsam zu einem Haufen Druckgeschwüre wurde.

Meine wunderbare Welt der Träumerei rettete mich damals. Mein Beschützer, die Wahrheit ohne Wirklichkeit, befreite mich letztendlich. Ich konnte nur mit seiner Hilfe über die Trauer um Mamas Tod hinwegkommen. Es hat Jahre gedauert; aber ich kam sogar vom Stottern los.

Das war kein kleiner Sprachfehler, sondern ein Dilemma. Ich stotterte, wenn ich aufgeregt oder traurig war. Das heißt, ich konnte über meine Sorgen und meinen Kummer nicht reden. Das war bei mir nicht angeboren. Es kam während der Krankheit Mamas und nach ihrem darauf folgenden Tod. Nein, nein! Ich werde nie die Hand beißen, die mich gefüttert hat. Ich will nicht undankbar sein, möchte aber manchmal zurück zur fassbaren, objektiven Welt und ich selbst werden. Manchmal wird der Retter zum Feind. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein. Vielleicht war sie immer an meiner Seite und ich weiß nicht, was ich ohne sie tun würde; aber gleichzeitig will mich eine innere Stimme von ihrer Abhängigkeit befreien, mich dazu zwingen, selbst für mich zu sorgen, zu ringen, ohne irgendwelche fremde Hilfe. Die Wahrheit ist, sie ist immer noch diejenige, die mir zu Hilfe kommt, wenn ich wieder stottere; diejenige, die den Dämon vertreibt.

In solchen Situationen aber, wie die jetzige meine ich, zweifele ich wieder an ihr, an meiner Welt und fürchte mich davor, dass sie eine teuflische sein könnte und dass ich in das schönste Gesicht meines eigenen Henkers, des Teufels, verliebt bin. Alle Hinweise deuten darauf, dass ich einen Keim in die Gebärmutter der Welt der Wahrheit ohne Wirklichkeit eingepflanzt habe, der gegen jede Logik und physisch-biologische Wirklichkeit, in der Welt der Wirklichkeit geboren wird. Der Kommentarkasten des Blogs "Steinzeitalter" ist ein Beispiel dieses genetischen Fehlers.

Das Posting und die Kommentare habe ich mehrmals gelesen. Trotzdem klicke ich wieder ganz links unten auf Kommentare und das kleine Fenster von vierzehn mal sechszehn öffnet sich.

Ich kenne mittlerweile jeden Namen, jede E-Mail-Adresse und jeden Kommentar auswendig. Dennoch beschließe ich, mir alle Kommentare wieder durchzulesen; vielleicht aus rein masochistischen Motiven. Was ist daran schlimm? Warum darf ich mich nicht selbst quälen? Warum steht immer jemand, ein Moralprediger, über meine Schulter und erinnert mich an meine Pflichten, daran was Gut und was Böse ist? Ich pfeife auf ihre Moral, auf Ethik und Ästhetik, auf richtiges Benehmen und gute Manieren. Die Moralprediger würde ich am liebsten vergessen, die Kommentare wieder sorgfältig durchlesen und dabei zerbrechen. Ich tue es und mir wird trotzdem übel, wenn ich sie lese. Die Übelkeit lässt mich nicht in Ruhe sitzen und studieren. Ich genieße diese Quälerei.

So stehe ich mit Mühe und Vorsicht auf, um gegen die Übelkeit etwas zu unternehmen. Das Erbrechen macht mir außerdem Angst. Schon als Kind hatte ich große Angst vor dem Erbrechen; sehr große Angst! Alleine das Anschauen des vergammelten ausgekotzten Mageninhalts, der in mir drinnen war, mein Inneres kennt, von den inneren Organen erfasst wurde und das pure geistlose Fleisch meines Körpers kennt, ist für mich unheimlich. Um dieses Zeug nicht hochkommen zu lassen nehme ich immer Zucker.

Die leere Zuckerdose nehme ich in die Hand und gehe zum Vorratsregal. Ich mache die Dose voll, werfe mir einen Würfel in den Mund, beiße kräftig darauf und kaue ihn. Dabei ertönt mir ein krachendes Geräusch im Schädel und ich höre das Echo, das das Geraschel noch steigert. Der Schall lässt meine Augen und Schläfen von innen beben und ich halte mich an der Kante meines Schreibtisches fest. Sofort werfe ich mir einen zweiten Zuckerwürfel in den Mund, setze mich auf den Schreibtischstuhl und starre den Kommentarkasten an.

Der zweite Kommentar ist von Parand.

Der Name Parand gefällt mir sehr. Er ist sehr melodiös, weiblich, aristokratisch, edel. Er assoziiert bei mir das Fliegen, Parwaz, wie man in meiner Muttersprache sagt. Er ist homophon mit Parande, Vogel, wie man es im Deutschen nennt. Er erweckt in mir die Vorstellung des Flugs, Parwaz eines Vogels, Parande; ein kleiner zierlicher blauer Vogel mit einem glänzend roten Schnabel, einen samtweich dunkelblau gefärbten Scheitel, der in jede Richtung anders glänzt, und mit einer gewölbten, stolzen Brust. Der Name Parand erinnert mich an eine junge Frau, eine Medizinstudentin, die an einem winterlichen Frühmorgen, gegen vier Uhr, am Bus-Terminal "Khasane" im Süden Teherans ankam, nach ihrem Henker, der ruhig in seinem Wagen schlief, suchte, ihn aufweckte und darum bat, sie zu ihrem Verlobten zu fahren. So legte sie sich unwissend freiwillig unters Messer ihres Mörders. Der Mann gestand nach seiner Verhaftung, dass er an diesem Frühmorgen ziemlich müde war, dass er lieber nachts, wie Fledermäuse, auf die Jagd ging und dass er alle anderen achtzehn Frauen auch in der Nacht aufgesucht hatte. Er sagte, sie sei die einzige gewesen, die euphorisch in seine Falle lief, die sehnsüchtig in seinen Wagen einstieg, die sich am stärksten wehrte. Er erzählte, er hätte sie beinahe laufen lassen, aber fast gleichzeitig, als er sich entschloss, sie gehen zu lassen, gab sie die Hoffnung auf und kapitulierte. Den Nachtjäger nannten die Bewohner der Stadt Nachtfledermaus.

Ich kannte die gefangene Parand nicht persönlich, aber sehr viele Nächte weinte ich über ihren herzzerreißenden Tod. Ich verfluchte Gott, die Kraft und die Hoffnung, die sie im entscheidenden Moment verließen, schrie immer wieder laut: «Warum? Warum war dir noch eine Minute länger zuviel? Warum?»; danach brach ich jeden Abend zusammen.

Obwohl ich noch nie ihr Foto gesehen hatte, hatte ich ein vollkommenes Bild von ihr im Kopf: Eine junge Frau, nicht besonders hübsch, mit einer gradlinigen Nase, schmalen Lippen und braunen, mandelförmigen Augen. Eine ganz gewöhnliche orientalische Frau. Was an ihr auffallend und charmant war, waren ihre Stirn und Haare.

Eine bestehende Symmetrie zwischen der hohen, leicht gewölbten Stirn und dem kleinen, etwas runden Kinn gibt ihrem Gesicht eine kindliche, schlichte Unschuld, die in mir ein zwiespältiges Gefühl von Vertrauen und Mitleid erweckt. Vertrauen, weil sie mir sehr stark vorkommt und Mitleid, weil ich mich auf dieses Vertrauen nicht verlassen kann. Ihre glatten, kastanienfarbenen, brustlangen Seidenhaare hängen ihr über der Stirn und über die Brüste herab und nehmen die gewölbte Form der Brüste an.

Ich weinte so lange nachts vor Trauer um den Tod dieses ruhigen, melancholischen Wesens, das niemals mit mir redete, bis endlich Mama aus der Welt der Wahrheit ohne Wirklichkeit kam, zu Parand ging, ihr einen Kuss auf ihre schöne, klagende Stirn gab und sie auf ihren Schoß setzte. Parand umarmte meine Mutter fest und schloss die Augen. Nach einer Weile streckte sie den Hals, entfernte sich ein wenig vom Körper der Mama und schaute ihr in die Augen. Mama schaute zurück und beide lächelten. Sie legte den Kopf auf die Schulter der Mutter und sie streichelte ihr die Haare.

Ich lächelte, wischte mir die Tränen vom Gesicht, schloss glücklich die dicken, brennend heißen Augenlider für ein paar Minuten. Als ich sie wieder öffnete, war Mama nicht mehr da. Parand stand noch vor mir, aber sie sah anders aus. Nicht das Äußere meine ich. Nein! Sie war wie verwandelt. Ihre Augen glänzten wie Sterne, ein Lächeln auf ihren Mund gab mir das Zeichen der Ausgeglichen- und Zufriedenheit, den Kopf etwas zur Seite geneigt schaute sie mich erwartend an. Ich schaute zurück.

Die neue Parand war der alten wie aus dem Gesicht geschnitten, aber sie war vollkommen anders. Sie war weder schüchtern noch strahlte sie eine kindliche Unschuld aus. Die neue Parand war wie die alte weder hübsch noch hässlich, jedoch war sie stark und besaß eine Anmut, die alle Menschen, die ihr begegnet wären, zum Schweigen und zum Respekt gebracht hätte. Wenn ich sage alle, dann heißt das, auch die Nachtfledermaus. Auch sie gehörte zu dieser Masse, wie ein unbedeutendes Sandkorn in der Wüste. Die neue Parand war hart, konkurrenzlos intelligent und ihr Selbstbewusstsein vereiste den Blick ihrer Bewunderer. Allein ein kleiner Prozentsatz ihrer Logik, Überzeugungskraft und Argumentationsfähigkeit reichte dafür aus, dass alle ihrer Zuhörer nicht wagten, ihre Meinung auszusprechen. Ihre einleuchtende Rhetorik traf immer den Nagel auf den Kopf, war so stark, dass sie in einem Zweikampf den Sturm der männlichen Kraft ihrer Gegner in einen belanglosen Hauch von Unsicherheit verwandelte.

Als sie der Fledermaus sagte, «Du bist erbärmlich. Gehe so weit wie möglich weg, ansonsten entmanne ich dich!», war ich über ihr Schicksal beruhigt und wusste, sie würde nie wieder stürzen. Natürlich, ohne Hilfe der Welt der Wahrheit ohne Wirklichkeit konnte ich Parand nicht wieder fliegen lassen!

Ich liebe ihn; ich liebe diesen Namen, Parand.

Shahla Baversad, "Albtraumkater", 2009 erschienen im Bremer Sujet Verlag.

Taschenbuch, Deutsch. 180 Seiten: 12,80 € ISBN 978-3-933995-43-8

Bei der Konferenz "Die Menschenrechte im Iran - Unterstützung der Zivilgesellschaft aus Europa" zeigten Sebastian Sessinou und Mehrnaaz Asadi jeweils einen Trailer ihrer Filme über Iran. Beide Trailer gaben einen Einblick in die pulsierende, sensible und verletzliche Zivilgesellschaft Irans.
Zum Abschluss las Shahla Baversad die Kurzgeschichte "Auf der Lauer nach der Fledermaus". Sie passte in die Aussage der Konferenz. Eine starke Zivilgesellschaft wird mit ihrem Aggressor alleine fertig. Die Sehnsucht nach Freiheit macht die Menschen stark. Wichtig ist die Unterstützung der europäischen Zivilgesellschaft der Menschen im Iran und klare Worte gegenüber dem repressiven Regime. Die Bevölkerung im Iran braucht Zugang zur Wahrheit, zu Informationen, die ihr ermöglicht eigene Schlüsse zu ziehen und gemeinsam aufrecht zu bleiben im Angesicht eines mächtig um sich schlagenden, verläumderischen Drachens, der die ganze Welt in die Dunkelheit einer inquisitorischen Weltregierung führen will.
Helmut N. Gabel, mehriran.de

ShareTwitter

wallpaper-1019588
[Comic] Der Zauberer von Oz
wallpaper-1019588
UNIQLO – Neue Kollektion zu Final Fantasy vorgestellt
wallpaper-1019588
Pokémon GO: Neue Funktionen vorgestellt
wallpaper-1019588
Dragon Ball Xenoverse 2 – Neue Charaktere für den „Future Saga“-DLC angekündigt