Arme sterben früher. Ungerecht, aber selbst schuld

Am Wochenende las ich in der Süddeutschen einen Artikel, den ich online nicht gefunden habe (ich finde in letzter Zeit mit Google fast nichts mehr, die haben ihre Suche langsam totoptimiert, aber egal, ich habs ja auf Papier), der unter der Überschrift “Gesund und reich” wie folgt begann: “Der Befunde ist schockierend: Reiche Menschen leben in Deutschland erheblich länger als arme. Arme Frauen sterben im Schnitt acht Jahre früher als reiche, arme Männer sogar elf. (…)”

Es ging um das Präventionsgesetz, mit dem die große Koalition diese haarsträubende Ungerechtigkeit bekämpfen will. Wohlgemerkt: Es ging keineswegs um die ebenfalls himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass es ein paar verdammt reiche und sehr viele sehr arme Menschen auf der Welt gibt, denn das findet die große Koalition, der überwiegende Teil der Bevölkerung und auch der Autor des Artikels (ein Guido Bohsem) total in Ordnung, weil das ja quasi naturgegeben ist: Alle Menschen sind gleich, aber einige haben halt mehr Geld als andere. Den einen gehören die Unternehmen, die anderen müssen dort arbeiten. Und wer keine Arbeit hat, ist noch viel ärmer dran. Aber das ist total gerecht.

Ungerecht ist dagegen, dass diejenigen, die reich sind, auch noch so viel länger leben. Denn ein Recht auf Gesundheit und Leben ein langes haben schließlich alle. Alles klar soweit?

Nun ist es leider so, dass viele arme Menschen nicht nur arm sind, sondern auch unvernünftig leben: Sie trinken mehr Alkohol, essen ungesunden Scheiß, hängen vor der Glotze, anstatt sich auf dem Golfplatz an der frischen Luft zu bewegen. Zwar hab ich gerade irgendwo gelesen, dass eine gesunde, vernünftige Ernährung mit viel frischem Obst und Gemüse drei mal so teuer ist wie die herkömmliche Armenernährung mit Billigfraß – aber mit etwas gutem Willen muss man sich auch als armer Mensch nicht ausschließlich von Junkfood ernähren. Und wenn man kein Geld fürs Schwimmbad oder das Fitnessstudio hat: Jogging kann jeder, das kostet nur einmal die guten Laufschuhe und ansonsten bloß Selbstdisziplin. Auch arm kann man glücklich sein und ein gesundes, langes Leben haben, man darf sich nur nicht so anstellen.

Unsere Regierung hat deshalb eine super Idee: Sie will noch in diesem Jahr den Entwurf für ein neues Regelwerk für eine gesunde Lebensführung vorlegen, das Krankheiten und einem frühen Tod vorbeugen helfen soll. Ist das nicht fantastisch? Ein besonderes Augenmerk soll darauf gerichtet sein, “die durch die unterschiedliche Herkunft entstehende Ungerechtigkeit ein Stück weit einzudämmen”. Deshalb setzte man auf den Lebensweltansatz: Es gehe darum, die Menschen dort zu erreichen, wo sie leben und arbeiten. Und zur Bewältigung armutsbedingter Krankheiten sollen die Mittel für die Prävention bei den Krankenkassen erhöht werden – von derzeit 3,41 Euro pro Jahr pro Versicherten sollen sie in den nächsten Jahren auf 10 Euro pro Jahr pro Versicherten erhöht werden.

Ist das nicht der Wahnsinn????

Das wird den Armen gewiss helfen! Die können sich dann die leckeren frischen Obstsalate und Gemüseschnitten im bunten Heftchen über gesunde Ernährung wenigstens mal ansehen, bevor sie beim Discounter wieder Billignudeln, Billigbrot und Billigbier einkaufen, weil es sonst bei den Kindern für die Sportschuhe nicht reicht. Die brauchen sie ja für die Schule, der Hallenboden verträgt keine dunklen Sohlen. Und wer, der sich mit einem Vollzeit-Mindestlohnjob gerade so über Wasser halten kann, geht abends, statt einfach erschöpft ins Bett zu fallen, noch zum Entspannungskurs von der Krankenkasse? Das können sich doch höchstens wieder die Partner von Besserverdienern leisten, die Zeit und Energie haben, derartige Veranstaltungen zu besuchen.

Ich frage mich, warum angesichts derartiger Heuchelei die Empörten nicht reihenweise auf die Straße stürmen – wenn Armut krank macht, und das tut sie ja ganz offensichtlich, wäre die logische Forderung doch, dass dann halt keiner mehr arm sein solle! Die Regierung kann sich ihr Präventionsgesetz gleich in den Allerwertesten schieben, denn nützen wird es sowieso nichts: Es ändert kein bisschen am zugrundeliegenden Problem. Im Gegenteil, es tut so, als läge das Problem wo anders und macht letztlich wieder die Armen für den Umstand, dass sie sich aus ihrem umkomfortablen Leben mittels Krankheit auch noch früher davon machen, selbst verantwortlich. Und das ist wirklich ungerecht.



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