Another Year

Wer ist schon glücklich? Das Schicksal hält doch immer etwas bereit, um uns das Leben, den Tag oder zumindest die Stimmung zu versauen. Ist das Glück wirklich etwas abstraktes Anfassbares? Warum ist es so schwer zu erreichen und noch schwerer zu behalten? Wie kann es Menschen geben, die einfach nur glücklich sind? Fragen, denen Regisseur Mike Leigh in seinem neuen Film „Another Year“ nachgeht.
Tom und seine Frau Gerri sind seit vielen Jahren verheiratet und leben glücklich zusammen in einem kleinen Haus am Rande Londons. Ihr Sohn Joe ist erwachsen und schon eine ganze Weile aus dem Haus. Er arbeitet in der Stadt als Anwalt. Tom und Gerri bekommen oft unverhofft Besuch von einer Freundin. Sie heißt Mary und steht nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. Mit Männern hatte sie kein Glück. Ihre Scheidung hat sie nur mit seelischer Unterstützung ihrer Freundin Gerri überstanden. Doch sie hört die Uhr ticken und ist nahezu krampfhaft auf der Suche nach der großen Liebe. Da sie die nicht findet, wird sie immer verzweifelter, je öfter sie die beiden Freunde besucht. Im Sommer bekommen die beiden Besuch von Ken. Er ist ein alter Freund von Tom und hat viel Pech im Leben gehabt. Er hat seinen Job satt und es belastet ihn sehr, dass um ihn herum alle alten Freunde nach und nach das Zeitliche segnen. Auch er wird immer verzweifelter und sucht Trost bei seinen Freunden. Im Winter stirbt die Frau von Toms Bruder Ronne. Die Familie ist auf dieser Seite stark dezimiert. Also fahren Tom und Gerri zusammen mit ihrem Sohn Joe zum Bruder Ronne, um ihm bei der Beerdigung beizustehen. Da taucht nach vielen Jahren plötzlich Ronnes Sohn auf. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist mehr als angespannt und wieder müssen Tom und Gerri Schützenhilfe leisten.
Mike Leigh ist etwas erstaunliches gelungen. Er hat es geschafft, auf absolut überzeugende Weise einen beobachtenden Stil zu etablieren und zusätzlich eine packende und rührende Geschichte zu erzählen. Das Motiv des überglücklichen Paares, welches ununterbrochen vom Unglück und Leid seiner Mitmenschen bombardiert zu werden scheint und sich dennoch nicht beirren lässt und trotz allem stark bleibt, ist dermaßen rührend, dass man es gar nicht zusätzlich ausschmücken muss. Dementsprechend ist „Another Year“ sehr schlicht geraten. In eine grobe Episodenform gepresst, ist alles andere sparsam. Die Kamera bewegt sich nur, wenn es nötig ist. Die Musik spielt nur, wenn niemand redet, der Schnitt wird lediglich in klassischer und ebenso sparsamer Weise eingesetzt. Die Atmosphäre, die die Story und ihre Charaktere prägt, kann sich so ungehindert entfalten. Auch, wenn all dies handwerklich gesehen einmalig und beeindruckend ist, muss man nach einer Weile feststellen, dass diese konsequente Erzählweise auf Dauer doch anstrengend und manchmal fast langweilig wird. Vor allem gegen Ende gibt es einen Dialog zwischen Ronne und Mary, der enorm viel Durchhaltevermögen abverlangt. Auch an anderen Stellen, kommt dieses Gefühl kurzzeitig auf, ist aber meiner Meinung nach eben dem authentischen Stil des Films geschuldet und kann fast vernachlässigt werden. Die Motive der gesamten Story sind sehr schön ausgearbeitet. Zum Beispiel fahren Tom und Gerri regelmäßig in ihren Schrebergarten. Dieser Garten ist stets tabu für Gäste und Besucher aller Art und bietet sozusagen den letzten Zufluchtsort, den die Familie eben benötigt, um ihr inneres Glück behalten zu können.
„Another Year“ ist ein schöner Film. Wir sehen ganz normale Menschen, die eben in dieser speziellen Konstruktion den Inbegriff von Glück und Unglück aufzeigen. Dieses Bild so klar zu bauen, ohne es aufgesetzt, oder abstrakt wirken zu lassen, ist eine enorme Leistung, die ich weder den Darstellen, noch dem Regisseur zugetraut hätte. Absolut sehenswert!
Another Year (GB, 2010): R.: Mike Leigh; D.: Jim Broadbent, Lesley Manville, Ruth Sheen, u.a.; M.: Gary Yashon; Offizielle Homepage
In Weimar: lichthaus

Rezensionen On Air: Jeden Donnerstag, 12:25 Uhr auf Radio Lotte Weimar.

Bild: http://www.anotheryear-movie.com/


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