Annäherung

Annäherung Wir lebten einen ganz normalen Alltag. Morgens musste ich die Kinder sehr früh gegen 5.30 Uhr wecken, damit ich sie um 6.30 Uhr bei ihrer jeweiligen Betreuung abgeben konnte. Ich fing meist gegen 7 Uhr mit arbeiten an, damit ich spätestens um 16.30 Uhr aufhören konnte, um die Kinder rechtzeitig vor 17 Uhr abzuholen. Ab und zu wurden sie auch von meinem Vater abgeholt, wenn ich ausnahmsweise mal etwas länger arbeiten musste. Nach Feierabend dann Abendbrot machen, mich um Wäsche und Haushalt kümmern und natürlich mit den Kindern spielen. Wenn die Kinder spätestens gegen 19.30 Uhr im Bett waren, dann war ich einfach nur noch müde. Ich setzte mich dann meist vor den Fernseher und schlief oft davor ein.
Ich war anfangs noch nicht soweit, ich konnte nicht alle meine Aufgaben zu 100% erledingen, es war einfach noch zuviel. Ich konzentrierte mich auf die Kinder und die Arbeit, der Haushalt litt manchmal schon, da bin ich ganz ehrlich.
Das Verhältnis zu Italo entspannte sich mit der Zeit. Es hatte den Anschein, als ob er sich damit abgefunden hätte, dass wir nicht mehr bei ihm waren. Er trank auch tatsächlich nichts mehr. Darüber war ich sehr, sehr froh. Das war auch der Ausschlag, warum ich einwilligte, ihn an Weihnachten mit den Kindern besuchen zu gehen. Zuerst war ich ja nicht begeistert von seiner Einladung. Schließlich hatte ich mich nach italienischem Recht strafbar gemacht, als ich mit den Kindern nach Deutschland zurück kehrte. Ich hatte Angst, dass er mich anzeigen könnte. Dann würde er die Kinder zugesprochen bekommen und ich würde verurteilt werden. Er versicherte mir aber, dass er zu keiner Zeit vorhatte, mich anzuzeigen. Auch die Kinder würde er mir nicht wegnehmen. Wie sollte er das alleine in Italien mit 2 kleinen Kindern auch schaffen?
Ich vertraute ihm. Zum Entsetzen meiner Eltern, die mir dringend abrieten, nach Italien zu fahren. Sie hatten einfach großeAngst, dass er mir doch die Kinder wegnehmen würde oder dass ich vielleicht wieder einknicken würde und bei ihm blieb, jetzt wo er nicht mehr trank.
Zu Recht befürchteten sie das. Denn in den Monaten, in denen ich bis jetzt mit den Kindern auf mich alleine gestellt war, bemerkte ich natürlich, dass das Leben als alleinerziehende Mutter anstrengend und sehr verantwortungsvoll war. So manche Nacht lag ich wach und grübelte, ob ich das alles schaffen würde. Ob ich das Recht hätte, den Kindern ihren Vater zu nehmen, obwohl er nun kein Trinker mehr war. Auch gefühlsmäßig hatte ich mich noch nicht zu 100% von Italo gelöst. Es war irgendwie ganz komisch: ich wusste ich liebte ihn nicht mehr, aber doch bedeutete er mir noch etwas.
Wieder mal hörte ich nicht auf meine Eltern und setzte meinen Kopf durch. Einen Tag vor Heilig Abend fuhr ich nach Italien. Die Kinder freuten sich riesig, ihren Vater wieder zu sehen, vor allem Bianca redete seit Tagen von nichts anderem mehr und war sehr aufgeregt.
Ein bisschen ein mulmiges Gefühl hatte ich schon bei dem Unterfangen. Was, wenn seine Worte einfach das Mittel waren, mich wieder nach Italien zu locken? Was, wenn kurz nach der italienischen Grenze die Carabinieri auf mich warteten? Es war der reinste Nervenkitzel.  Doch ich passierte die Grenzen ohne Zwischenfälle. Kein Zöllner hielt mich an, wir wurden nicht kontrolliert sondern einfach durchgewunken. Als wir an unserem ehemaligen Haus in San Marino di Gadesco Pieve Delmona angekommen waren, stand Italo bereits vor der Haustüre und erwartete uns. Bianca weinte vor Freude und rief immer wieder;"Papa"! Papa!" Sie sprang aus dem Auto und warf sich ihm in die Arme. Auch Italo hatte Tränen in den Augen und drückte und herzte sie. Marco war jetzt knapp 2 Jahre alt. Er reagierte verhaltener auf seinen Vater, er ließ zwar die Begrüßung über sich ergehen und plapperte Bianca nach und sagte auch immer wieder: "Papa!". Ich hatte jedoch den Eindruck, dass ihm nicht klar war, was hier gerade passierte.
Italo und ich nahmen uns verlegen, aber freundschaftlich in den Arm. Dann gingen wir ins Haus.
Italo hatte für uns zur Begrüßung Spaghetti gekocht. Ich konnte es kaum glauben! Das hatte er noch nie gemacht. Stolz lächelnd tischte er uns auf und meinte, er habe die letzten Monate das Kochen lernen müssen und mittlerweile könne er das gar nicht mal so schlecht. Es stimmte. die "Spaghetti alle Vongole" schmeckten wirklich hervorragend.
Den ganzen Tag wurde er von den Kindern belagert und er gab sich  mit ihnen mit einer Geduld ab, die er bis dato nie mit ihnen gehabt hatte. Staunend saß ich ab und zu daneben und schaute zu. War das der Mann, den ich verlassen hatte? Der Mann, der so aggressiv sein konnte? Ich konnte es kaum fassen. Er hatte sich wirklich sehr verändert. Ich merkte, wie meine Anspannung langsam nachließ und meine besorgten Gedanken, was diese Reise zu ihm anbelangte, kleiner und kleiner wurden und einem Wohlfühlgefühl Platz machten.
Abends, als die Kinder im Bett waren, hatten wir Zeit uns zu unterhalten. Er erzählte mir, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war, wie schwer sein Kampf gegen den Alkohol gewesen war, wie oft er kurz davor war, wieder zur Flasche zu greifen. Immer dann, wenn er uns besonders vermisste und die Einsamkeit ihn zu sehr drückte, dann war der Wunsch nach einem Drink besonders groß. So paradox es klang, aber genau diese Sehnsucht nach uns gab ihm auch die Kraft, diesem Wunsch nicht nach zu geben. Er gestand mir, dass er immer noch die Hoffnung hatte, dass wir wieder zu ihm zurück kehren würden. Irgendwie rührten mich seine Worte, sie trafen mitten in mein Herz. Wir rückten immer enger auf der Couch zusammen und irgendwann lagen wir uns in den Armen und küssten uns. Dabei blieb es nicht. Ich folgte ihm ins Schlafzimmer und wir verbrachten eine wundervolle Nacht zusammen.
Am nächsten Morgen wachte ich auf und erschrak. Was hatte ich getan? Italo lag schlafend neben mir. Ich erinnerte mich an letzte Nacht und plötzlich hatte ich ein ganz ungutes Gefühl. Ich wusste, es war falsch, was wir getan hatten. Ich betrachtete ihn und dachte;"Nein! Ich liebe ihn nicht mehr! Ich mag ihn, wir haben zwei Kinder miteinander, aber ich liebe ihn nicht mehr!" Wie sollte ich Italo das nach dieser Nacht nur beibringen? Er würde sich jetzt sicherlich noch mehr Hoffnungen machen, dass wir wieder zu ihm zurück kehrten. Doch das wollte ich nicht. Ich konnte mir ein Leben an seiner Seite einfach nicht mehr vorstellen. Es war vorbei!
Den ganzen Tag versuchte Italo, mir nahe zu kommen, versuchte mich vor den Kindern zu küssen und mich zu umarmen. Ich drehte mich immer weg und entglitt seinen Umarmungen. Natürlich bemerkte er meine ablehnende Haltung und wurde im Laufe des Tages immer stiller.
Wir verbrachten einen schönen Heilig Abend mit Bescherung mit den Kindern. Ihre Augen glänzten, als sie die Geschenke unterm Weihnachtsbaum auspackten und wir anschließend mit ihnen spielten. Es wäre wirklich ein perfekter Weihnachtsabend gewesen, wenn da nicht die Spannung zwischen Italo und mir bestanden hätte.
Als die Kinder schliefen, hatten wir unsere Aussprache und ich musste Italo klar machen, dass die letzte Nacht eine einmalige Sache bleiben würde und ich mit den Kindern auf alle Fälle wieder nach Deutschland zurück kehren würde. Für ihn brach eine Welt zusammen. Er saß da und weinte, konnte und wollte es nicht begreifen und akzeptieren. Ich wusste nicht, wie ich ihn trösten sollte und saß hilflos und mit einem riesigen schlechten Gewissen neben ihm. Dann stand er auf, ging ins Schlafzimmer, brachte mir Decken und Kissen mit den Worten, dass ich ja sicherlich nicht mit ihm im Ehebett schlafen wolle sondern hier auf der Couch, und verabschiedete sich.
Ich schlief sehr schlecht in dieser Nacht. Was sollte ich nur tun? Was, wenn er jetzt wieder rückfällig wurde? Ich machte mir die größten Vorwürfe und schlief irgendwann im Morgengrauen ein.
Der nächste Tag war der letzte Tag unseres Aufenthaltes bei Italo. Am zweiten Weihnachtsfeiertag musste ich nach Hause fahren, denn am Tag darauf musste ich ja wieder arbeiten gehen. Italo und ich versuchten, den Kindern zuliebe Normalität zu spielen und gingen mit Ihnen spazieren und besuchten Nicoletta und Carmine in Cremona.
Als wir am nächsten Tag dann wieder abreisten, fiel vor allem Bianca der Abschied sehr schwer. Nur das Versprechen, dass wir den Papa bald wieder besuchen würden, half ihr etwas über den Abschiedsschmerz hinweg.
Hupend und winkend verließen wir Italo, der vor der Haustüre stand und uns nachwinkte, bis wir nicht mehr zu sehen waren.
Einerseits war ich froh, dass nun Klarheit in mir herrschte und ich wusste, dass es endgültig vorbei war. Andererseits tat mir Italo unendlich leid.
Ich nahm mir vor, nun mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln für die Kinder und mich ein neues Leben in Deutschland zu schaffen. Das war unsere Zukunft. Zu dritt in Frieden zu leben.
Zu dritt? Ich war überzeugt davon. Doch da wusste ich auch noch nicht, dass die Nacht mit Italo nicht ohne Folgen geblieben war.

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