Am Ende steht ein neuer Anfang

Ich war am Wochenende in Berlin, und da sich meine Mediennutzung stark reduziert, wenn ich unterwegs bin, gelang es mir nur mit etwas Arbeit, herauszufinden, warum Freunde auf Facebook plötzlich einen Hannes suchten, und dann mitbekam, dass dieser Mensch sich wohl umgebracht hat. Jemand, der ein Social-Media-Mensch war, offenbar so wie ich im Internet lebte, und den ich trotzdem nicht kannte. Ich folgte ihm nicht mal auf Twitter, aber hey, jeder macht ja so sein eigenes Ding.

Solche Situationen sind ein Füllhorn an Triggern für mich, aber Triggerwarnungen für’s Leben gibt es nunmal nicht, und jetzt muss ich drüber schreiben, sonst lauf ich über. Für diejenigen, die Triggerwarnungen brauchen:

Hier ist deine Triggerwarnung, für alles.

Alkohol, Drogen, selbstverletzendes Verhalten, Promiskuität, Verlassenwerden, alles.

In seinem Abschiedsbrief schreibt der Johannes also von offenen Fragen, Feigheit, Mutlosigkeit.

Für mich, eine Frau die mit 12 das erste Mal konkret und ernsthaft in einem kleinen bunten Kindertagebuch über Selbstmord nachdachte, gibt es keine offenen Fragen. Keine Feigheit. Mutlosigkeit, vielleicht ein bisschen.
Meine Teenager-Jahre habe ich in einem Wechselbad der Gefühle verbracht, und nein, nicht die üblichen.

Wenn ich nicht gerade auf einem Balkon stand und darüber nachdachte, ob ich diesmal endlich springe, machte ich mich taub mit Alkohol und Drogen, fing an, mir die Arme aufzuschneiden, Rasierklingen, Teppichmesser, Skalpelle. Nie so tief, dass es genäht werden musste.
Immer so tief, dass es nicht mehr als Katzenkratzer durchgeht.

Ich hatte ja auch nicht mal ne Katze.

Mit 18 machte ich meinen ersten und einzigen Alkohol-Entzug auf eigene Faust, nachdem mein Freund mir ein Ultimatum gestellt hatte. Noch schlimmer, als nicht zu trinken, war die Vorstellung, verlassen zu werden. Ich bin bis heute nicht vor meiner panischen Angst vor dem Verlassenwerden geheilt, und bis heute treibt es mir den Blutdruck hoch und die Tränen in die Augen, wenn ich daran denke, dass jemand der mir wichtig ist, sich abwendet und geht. Ich machte es zu meiner Angewohnheit, selber zu gehen. Verlassen ist nicht so schlimm wie verlassen werden.
Dafür muss ich wenigstens nicht mehr trinken, um das Leben zu ertragen. Meistens jedenfalls. Nach einer weiteren unerfolgreichen Kinderwunschbehandlung geb ich mir durchaus mal die Kante. Traurige Realität, aber ich trinke vermutlich im Schnitt immer noch weniger als der Durchschnittsbürger.
Erster Klinikaufenthalt. Naiv wie ich war, fragte ich den Arzt beim Aufnahmegespräch, ob ich denn in 3 Wochen fertig sei, da fing nämlich meine Ausbildung an. Ich blieb 10 Wochen und fing die Ausbildung nie an.

Von Kiel nach Hamburg.

Wenn ich nicht gerade auf einem Balkon stand, und darüber nachdachte, ob ich diesmal endlich springe, verkroch ich mich in meinem Bett und hörte dem Leben auf der Straße zu. Ich war bei meinem Freund und seinen Eltern eingezogen. Es wurde besser, aber immer noch nicht gut. Ich konnte nicht bleiben.
Zweiter Klinikaufenthalt mit 19. Ich blieb 12 Wochen und bettelte um weitere 2 Wochen, die ich nie bekam, obwohl ich praktisch obdachlos war. Eine Mitpatientin lies mich für 2 Wochen bei sich unterkriechen, machte den Kühlschrank voll, bis ich endlich in meiner betreuten WG einziehen konnte.

Sie machte den Kühlschrank aber auch ziemlich schnell wieder leer. Bulimie eben. Scheiß Krankheit, aber beeindruckt bin ich eben nicht, wenn jemand 1000 Kalorien pro Minute runterhaut und dann nach einer Viertelstunde wieder alles auskotzt.

Wenn ich nicht gerade auf einem Balkon stand, und darüber nachdachte, ob ich diesmal endlich springe, hatte ich Beziehungen mit verheirateten Männern, die gewalttätig waren, Sex mit irgendjemand, nur nicht allein sein. Einmal im System der Psychoscheiße gefangen, trifft man nur noch Psychos, und es wird nicht besser.
Ich habe Menschen getroffen, die heirateten um dem Missbrauch im Elternhaus zu entgehen, doch das Elternhaus kommt immer noch zu Besuch, wenn der Partner auf der Arbeit ist. Ich habe Menschen getroffen, die so tief geschnitten haben, dass immer genäht werden musste. Menschen, deren Eltern sie so sehr misshandelten, dass sie niemandem mehr vertrauten, die beim Sex einfach die Augen zumachten oder eine Zeitschrift lasen, nur um wenige Wochen später eine weitere Abtreibung vornehmen zu lassen. Ich kenne Menschen, die sich so tief schnitten dass das Blut vor meinen Augen an die Decke spritzte, Messies mit 3 Zimmer Wohnungen voll mit Krempel, und sie sitzen alle in einem kleinen, für den Rest der Welt unsichtbaren Rucksack. Ich hab sie immer dabei.

Ihr seid überrascht, ich nicht.

Wenn sich jemand umbringt, sind alle überrascht. Ich bin nicht überrascht. Wenn man so wahnsinnig ist und verfolgt, was in der Welt passiert, wieviel falsch läuft, wie krank das alles ist, was um uns herum passiert, ich meine, wenn man sich wirklich damit beschäftigt und nicht nur ein “Pray for Klein Kleckersdorf” Bildchen auf Instagram postet, dann kann es einen nicht überraschen, dass irgendwann einer kommt und das nicht mehr aushält.

Die meisten Menschen, die sich tatsächlich umbringen, haben meiner Meinung nach schlichtweg ausreichend gute Gründe gehabt, den Plan umzusetzen. Das ist halt so wie wenn eine Party Scheiße ist, da ruft man sich ja auch ein Taxi und fährt nach Hause, anstatt noch ewig rumzuhängen und sich anzusehen wie die Hälfte der Gäste sich total abschießt weil sie es auch nicht wirklich aushält, dass der DJ das zehnte Mal “It’s raining men” spielt.

Darum ignoriere ich schlichtweg, was passiert, so gut ich kann. Konsumiere so wenig Nachrichten wie möglich, halte mich von Menschen fern, die mir nicht gut tun. Lasse mich nicht von Energievampiren aussaugen. Gehe nicht wieder festangestellt in eine Agentur. Lasse mich nicht auf Diskussionen ein, die keinen Sinn machen. Blocke Trolle auf Twitter umgehend, fordere mein Recht auf gleichwertige Behandlung ein. Schreibe Artikel, die andere nur schreiben, wenn sie schon beschlossen haben, zu gehen.

Denn ich will nicht an jedem Tag meines Lebens auf einem Balkon stehen und mir die Frage stellen, ob ich diesmal endlich springe.

Es passiert nicht mehr so oft wie früher, aber es passiert. Aber dann entscheide ich mich dagegen, und fang wieder von vorne an. Jedes Ende ist ein neuer Anfang.


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