BERLIN. (hpd) Die Wahlberlinerin Katharina Micada hat vor einiger Zeit das Buch “Dein gerettetes Leben” von Alice Miller als Hörbuch gesprochen und produziert. Der hpd sprach mit ihr über ihre Gründe dafür und über ihr Engagement für das NetzwerkB.
Katharina Micada
hpd: Hallo Katharina. Kannst Du Dich bitte kurz vorstellen?
K.M.: Ich bin Katharina Micada, 44 Jahre alt, Musikerin, Schauspielerin und Sprecherin. Ich beschäftige mich seit fünf, sechs, sieben Jahren mit Kindheit und Kinderrechten, vermehrt jetzt auch politisch mit den Themen Kindesmisshandlung usw.
Aus welchem Grund?
Aus persönlichen Gründen. Aber ich darf nicht über meine Kindheit reden, weil die Menschen, die mir in meiner Kindheit geschadet haben, dies gerichtlich verboten haben. Und deshalb werde ich auch nicht ins Detail gehen, was meine Kindheit betrifft, was ich da erlebt habe…
Also Du bist eine Betroffene.
Ich bin betroffen von dem Thema “Kinder und Missbrauch”, ja. Soviel dazu.
Woher kommt Dein Interesse an Alice Miller?
Ich habe mich eigentlich schon in den 90er Jahren mit Alice Miller beschäftigt. Habe ein paar Bücher gelesen, sie dann wieder weggelegt; mein Leben so gelebt und mich aus persönlichen Gründen dann doch wieder damit befasst.
2006 gab es auf ihrer Internetseite eine Mailbox, wo man hinschreiben konnte und ich hab ihr mehrfach geschrieben und sie hat mir zurückgeschrieben und so hat sich der Kontakt entwickelt. Sie wusste ja, dass ich Künstlerin bin und auch schreibe. Und so hat sie mir vorgeschlagen, ein Drehbuch über mein Leben zu schreiben. Das habe ich dann auch getan.
Sie hat mich sehr ermutigt. Sie war – wenn man so will – eine Art Ferntherapeutin, soweit das geht per E-Mail.
Die Basis für diesen Kontakt waren eben ihre Bücher. Das, was sie darin postuliert, was sie an Thesen aufstellt und welche Erfahrungen sie hat.
Ich habe dann bei einer Hörbuchproduktion mitgemacht; der ersten überhaupt eines Alice-Miller-Buches: “Das Drama des begabten Kindes”, das 2010, kurz vor ihrem Tod, erschien. Das Hörbuch ist bei dem kleinen Verlag “Ungehört” aus Frankfurt erschienen und darin habe ich einige Passagen als Gast vertont. Es ging um Briefe von Frauen, die etwas Spezielles erlebt haben. Ich wurde darum gebeten, damit noch ein paar mehr Stimmen auf dem Hörbuch sind als nur die eine der Hauptsprecherin. Das war so mein erster Kontakt mit dem Medium “Hörbuch”.
Und das brachte Dich auf die Idee, auch ein Hörbuch zu produzieren?
Ja, genau gesagt, habe ich gedacht, es wäre schön, ein weiteres zu machen. Das “Drama…” ist ja das erste Buch von ihr. Da dachte ich mir: ‘Warum nicht das Letzte?’ Und “Dein gerettetes Leben” ist ja das letzte, das noch als gedrucktes Buch von ihr erschien.
Leider hatte der Verlag “Ungehört” kein Interesse an einem weiteren Alice-Miller-Buch. Da habe ich mir gedacht: ‘dann mach ich’s eben selber.’ Nun verkaufen wir das Hörbuch über unsere Tonstudio-Seite.
Hast Du Alice Miller persönlich getroffen?
Nein, ich habe einige Male mit ihr telefoniert. Da sie in Südfrankreich lebte, war es nicht so einfach, sie zu treffen.
Ich dachte, sie lebte in der Schweiz.
Nein, das hab ich aber auch gedacht. Es stand irgendwo im Internet, dass sie in den letzten Jahren in der Schweiz lebte. Aber sie war in Südfrankreich, in Bagnols sur Cèze.
Sie hat ja zuletzt auch nicht mehr als Therapeutin gearbeitet.
Nein. Sie war ja auch schon über achtzig. Sie hat sich zurückgezogen, ein einfaches Leben gelebt und war eben sehr aktiv auf ihrer Webseite, in ihrer Mailbox. Sie hat da jeden Tag Leserbriefe beantwortet – bis kurz vor ihrem Tod.
Es hat ja einen Grund, dass die Seite bis heute existent ist.
Vier oder fünf Jahre lang hat sie das gemacht – ich glaube, von 2005 bis ein paar Wochen vor ihrem Tod – vielleicht kennt ja jemand diese Leserbriefseite. Aber auch der Rest der Seite ist sehr interessant. Ich empfand das als sehr unterstützend in meinem Denken über Kindesmisshandlung und auch für mein politisches Aktivwerden. Ich hab gedacht: “Da muss man doch was machen!” – jenseits von persönlicher Betroffenheit denk ich, das ist ein Thema, das in der Öffentlichkeit viel zu wenig Beachtung findet.
Es kam ja dann die große Welle 2010, die Alice Miller dann aber nicht mehr wirklich erlebt hat. Vielleicht den Anfang…
Ich denke, das hätte sie sehr erfreut, denn in einem ihrer Bücher schreibt sie ja davon, dass sie an den Vatikan geschrieben hat, er möchte seine Macht und Mittel einsetzen, gegen den Kindesmissbrauch aufzutreten. Sie schreibt ja auch, dass da nichts kam. Dass es niemanden interessierte. Heute kann man sagen: es hat sie nicht nur nicht interessiert, sondern sie wollten tunlichst vermeiden, dass darüber gesprochen wird. Es interessierte nur, wie das Problem wieder unter den Teppich gekehrt werden kann.
Ja, es gab auch einen Nachruf. Im Tagesspiegel hat die Journalistin genau das geschrieben: “Es ist aufgedeckt worden, nun kann sie gehen.” Aber wie man jetzt sieht, war das zwar ein großer Aufschrei. Die Medien haben wie wild berichtet. Doch jetzt, nach ein, zwei Jahren, verschwindet das Thema wieder in der Versenkung.
Ja, es wurde zwar langsamer leise, als ich vermutet habe, aber es ist inzwischen kein Thema mehr. Siehe aktuell die Situation von Norbert Denef.
Ja, leider. Es ist in den Medien “durch”. Umso wichtiger finde ich es, so etwas wie das Hörbuch zu machen. Ich bekomme vor allem Feedback von Betroffenen, also heute erwachsenen Betroffenen. Sie sagen, es ist wichtig, dass es das auch als Hörbuch gibt. Weil Lesen – klar – ist eine Sache und regt die Fantasie an; aber ein gesprochener Vortrag geht tiefer…
Allerdings. Es ist etwas sehr anderes, das Buch zu lesen oder es zu hören. Deine Stimme passt auch gut zu den Texten. Man merkt schon, dass Du da ziemlich dicht dran bist; es wird nicht ohne eigenen Bewegung gesprochen.
Das war mir auch wichtig, hereinzubringen. Ich habe ja eben meine eigene Sicht dieser Dinge und ein Thema, das Alice Miller auch immer sehr wichtig war, war das der Empörung. Als Vehikel der Therapie und überhaupt, um aktiv zu werden, gegen diese Missstände vorzugehen. Das habe ich versucht, in angemessenem Maße auch rüberzubringen. An Stellen, an denen es wirklich um empörende Dinge geht.
Gibt es auch Gegner von Alice Miller und ihren Theorien und bekommst Du davon etwas mit?
Ja sicher gibt es das. Das sind meistens Leute, die aus der Psychoanalyse kommen. Alice Miller hat sich ja aus gutem Grunde von Freud abgewandt. Es geht im Prinzip um die Neutralität des Therapeuten, was immer wieder eingefordert wird, von Freud so eingefordert wurde. Und das ist ein großes Problem in der Therapie, dass dann die Klienten nicht wirklich empathisch begleitet werden.
Ich sehe bei ihr auch den Angriff auf die Therapeuten, dass sie sich nicht selbst therapieren lassen. Die stecken ja ebenfalls in den gleichen Mustern. Das ist ein sehr häufiger – Angriff ist das falsche Wort – Hinweis von ihr. Und ich glaube, das mögen viele nicht hören wollen. Ich kenne Therapeuten, die sich Hilfe von Außen holen. Supervision. Damit sie die Dinge nicht mit nach Hause nehmen…
Ja. Das Drama des begabten Kindes…
…und das sehe ich als den Hauptpunkt ihrer Kritik und den Grund ihres “Abfalls” von der klassischen Psychoanalyse. Hier muss etwas Neues angefangen werden. Sie hat sich ja auch von den offiziellen Schulen und Verbänden verabschiedet. Ist sie ausgetreten oder ausgetreten worden?
Sie hat sich abgewandt. Das war ein deutlicher Schnitt gegenüber ihren Kollegen und ihrer eigenen Ausbildung.
Was ja auch noch so verheerend ist an der Psychoanalyse oder an einigen psychotherapeutischen Richtungen, dass das Kind beschuldigt wird – gerade wenn es um sexualisierte Gewalt geht – diese ausgelöst zu haben und dass die Eltern in Schutz genommen werden. Das ist natürlich verheerend für die Klienten wie man heute weiß. Es gibt Traumatherapien, die genau das Problem sehen und sich eben auch von Freud abwenden.
Wenn Du über Deine eigene Geschichte nicht reden kannst: Wo aber siehst Du denn Möglichkeiten, etwas politisch zu tun? Im NetzwerkB zum Beispiel?
Ja, da arbeite ich mit. Die haben sich ja nach 2010 – also nach dieser Aufdeckungswelle – sehr dafür eingesetzt, dass auch Betroffene an den Runden Tisch kommen. Sie haben immer protestiert, wenn der Runde Tisch getagt hat. Da war ich ein paar Mal mit dabei.
Seit einem guten Jahr ist NetzwerkB klar geworden, dass die politische Hauptforderung, die der Aufhebung der Verjährungsfristen, weder vom Runden Tisch noch von irgendwelchen Politikern vorangetrieben wird. Also mit dem Abschluss des ersten Abschlussberichtes des Runden Tisches, als Frau Bergmann ging. Frau Bergmann ist ja der Meinung, es sei nicht notwendig, die Verjährungsfristen aufzuheben. An der Stelle ist dann das NetzwerkB aktiv geworden.
Es gibt die Gruppe der Heimkinder, die auch mit der Prügelnonne unterwegs waren. Gibt es personelle Überschneidungen zwischen dem NetzwerkB und den ehemaligen Heimkindern?
Es gibt Überschneidungen. Aber NetzwerkB kommt eigentlich nicht aus der Heimkinder”bewegung” – wenn man so sagen darf. Das Netzwerk ist ganz wesentlich eine Gruppierung um Norbert Denef herum, der schon vor Längerem an die Öffentlichkeit gegangen ist mit seiner persönlichen Geschichte. Das war eben zufällig im katholischen Milieu: ein Pfarrer der Täter. Und es haben sich einfach immer mehr Leute bei ihm gemeldet und so ist das Netzwerk entstanden. Das heißt ja “Netzwerk Betroffener sexualisierter Gewalt” – und da treffen sich eben wirklich alle: also sowohl Leute, die in kirchlichen Institutionen sexualisierte Gewalt erfahren haben oder eben auch in den Familien oder auch in Heimen.
Das Netzwerk ist also offen.
Ja, es heißt ja nur “Netzwerk Betroffener sexualisierter Gewalt” – wo auch immer diese geschah.
Gibt es denn so etwas wie “Ortsgruppen”? Also Orte in größeren Städten, wo sich Betroffene treffen können?
Das Netzwerk ist bundesweit, es gibt überall Landesvertreter.
Dann ist das Netzwerk größer als man, als ich, angenommen habe…
Es wird in den Medien jetzt öfter über die größte Vereinigung von Missbrauchsopfern geredet – wie weit das zutrifft, weiß ich aber nicht. Was man aber auf jeden Fall sagen kann, ist, dass es die politisch aktivste ist.
Das ist im Moment ja auch das Wichtigste. Aufmerksamkeit erregen wie am letzten Freitag
…immer wieder mit diesem Ball aufzukreuzen…
Kommen wir noch einmal zurück auf das Buch von Alice Miller, das Du nicht nur als Hörbuch gesprochen hast, sondern das auch hier vor uns auf dem Tisch liegt. Was ist für Dich das Interessante an gerade diesem Buch? Warum hast Du gerade das als Hörbuch veröffentlicht.
Wir haben ja vorhin schon über die Leserbriefe gesprochen, im Buch sind davon einige abgedruckt; bzw. nein, sie sind nicht abgedruckt; aber Alice Millers Antworten darauf. (Die meisten Briefe findet man aber auf der oben verlinkten Webseite von Alice Miller.)
Gibt es auch einen Brief an Dich in dem Buch?
Nein, in der Zeit war ich ganz frisch dabei. Das Buch ist 2007 erschienen. Sie hat die Antworten zusammengetragen, die ein bisschen exemplarisch sind und diese thematisch zusammen gefasst. Es gibt auch ein paar Artikel von ihr, die man von der Webseite kennt, die aber noch nicht in Büchern veröffentlicht waren.
Ich sehe das Buch ja als die Quintessenz dessen, was sie gemacht hat.
Das sehe ich auch so. Sie selber hat ja auch gesagt – oder in der Werbung des Buches wurde es gesagt -, dass es ihr Vermächtnis an die Welt ist. Was ich daran sehr angenehm finde, ist, dass es einfach sehr gut zu lesen ist. Sie hat ja wesentlich kompliziertere Bücher geschrieben, die mehr psychologischen Fachjargon aufweisen und elend lange Sätze. Das ist natürlich beim Lesen dann sehr schwierig.
Die “Revolte des Körpers” hat Abschnitte, wo ein Satz locker über eine Seite geht. Sie hat früher sehr viel fachspezifischer geschrieben und später dann in einer einfacheren, populäreren Sprache.
Da sind dann zum Beispiel die Artikel über Depressionen und sehr gute, praktische Beispiele “Wie kommt das Böse in die Welt” – also über Diktatoren, die sie untersucht hat; über Schriftsteller und über sonstige Künstler, deren Leben sie untersucht hat. In deren Kindheit sie nach den Ursachen geforscht hat für das, was aus den Menschen wurde.
Ich bin auf dieses Buch gekommen weil es das letzte ist und ich fand auch diese Leserbriefe interessant. Das ist so direkt. Sie schreibt, wie sie spricht. Ich glaube, dass man das auch gut aufnehmen kann. Es geht mir ja auch darum, dass die Inhalte gut aufgenommen werden können.
Es gibt im Buch einen großen Teil über Therapie und Interviews. Das sind wahrscheinlich aufgeschriebene, direkt geführt Interviews. Hier habe ich einen Mann die Fragen sprechen lassen, damit es etwas lebendig wird.
Was ich noch sehr spannend finde – was fast in Richtung Literatur geht – und was mich auch als Sprecherin sehr gereizt hat, ist das fiktive Tagebuch einer Mutter. Da geht es um eine Mutter, die sich mit ihrer Tochter auseinandersetzt, die wiederum in Therapie ist und Abstand zur Mutter sucht. Und jetzt fragt sich die Mutter, wie es der Tochter geht und was in deren Kindheit war. Sie leidet unter dieser Distanz – und im Laufe dieses Tagebuchs kommt die Mutter immer mehr an ihre eigene Geschichte. Sie merkt im Schreiben – also in der Auseinandersetzung mit ihrer Tochter – dass sie in der Erziehung sehr viele Dinge wiederholt hat, die sie selbst in ihrer Kindheit erlebt hat. Und das ist natürlich auch interessant – auch für Mütter…
…und auf der anderen Seite ist es ja das Hauptthema von Alice Miller.
Genau. Die Weitergabe von Gewalt oder aber auch von emotionalem Missbrauch und “Schwarzer Pädagogik”.
Und in Buchläden liegt noch immer der Struwwelpeter. Das Handbuch der “Schwarzen Pädagogik”. Ich bin damit großgezogen worden. Mit diesem “Kinderbuch”. Aber wie hätten es meine Eltern besser wissen können. Sie sind ja auch damit großgezogen worden.
Richtig! Es gab nach den ’68ern sicher eine ganze Reihe von besserer Kinderliteratur. Aber er ist nicht totzukriegen, dieser Struwwelpeter.
[Erstveröffentlichung: Humanistischer Pressedienst]