In Madrid (Foto oben) sind es gestern mehr als 100.000 gewesen, ebenso in Barcelona. In mehr als 80 spanischen Städten brannte die Luft gleich doppelt: Auch 40 Grad Hitze konnte nicht mehr verhindern, dass die Menschen ihren Zorn auf die Strasse trugen. Der Protest lässt sich nicht mehr auf bestimmte Berufsgruppen oder soziale Schichten reduzieren – jetzt reicht es allen. Spanien ist ein ganz besonderes Land. Die Menschen halten lange still, bringen Opfer. Doch wenn sie einen gewissen Punkt überschritten sehen, gibt es kein Zurück mehr. Dieser Punkt ist jetzt! Regierungschef Mariano Rajoy hat das unterschätzt, offensichtlich kennt er sein eigenes Land zu wenig.
Jeder ist jetzt betroffen, und jeder will seinen Protest öffentlich und sehr deutlich machen. Ob die drastische Mehrwertsteuer-Erhöhung, die Arbeitsmarktreform, die Steichung des Weihnachtsgelds bei den Beamten oder die Kürzungen beim Arbeitslosengelds – in ganz Spanien machten die Menschen gestern deutlich, dass jetzt Solidarität gefragt ist. “Das ist erst der Anfang”, hörte man oft auf den Strassen in Bilbao, Valencia, Palma de Mallorca, Las Palmas de Gran Canaria und praktisch überall im Land. T-Shirts mit Parolen wie “El pueblo unido jamás será vencido” (ein geeintes Volk ist unbesiegbar) oder “Que se jodan”, dem längst berühmten Ausspruch einer PP-Politikerin im Parlament, waren überall zu sehen.
“Jetzt ist das Mass voll, ich bin chronisch krank und kann mir meine Medikamente nicht mehr leisten”, schreit ein pensionierter Feuermann wütend. Leute mit grünem T-Shirt protestieren gegen die Einschnitte bei Bildung und Erziehung; Männer mit Helm gehören zur Feuerwehr; Polizisten in Zivil gehen in Valencia neben einigen Mutigen, die sich sogar in Uniform in die grosse Demo gewagt haben; Beamte mit schwarzen Hemden zeigen ihren Zorn auf die Gehaltskürzungen. Alle Schichten sind jetzt vertreten, jedes Alter vom Schulkind bis zur Oma. Auch auf den Inseln (Foto unten: Las Palmas de Gran Canaria) war die Präsenz bei dem Massen-Demos massiv. Ob auf den Balearen oder auf den Kanaren-Inseln; alle wollen der Regierung zeigen, dass es ab jetzt nirgendwo mehr Ruhe geben wird.
In Madrid war es kaum noch ein Protestmarsch, vorwärts kommen war praktisch unmöglich in der völlig verstopften Calle Alcalá. “Sie wollen das Land ruinieren, das müssen wir verhindern, denn wir sind mehr!”, ruft die wogende Masse in der Gluthitze. “Wir sind nicht die Polizei der Regierung, wir sind die Polizei des Volkes”, antworten die demonstrierenden Polizisten. Ob im Baskenland, in Galizien oder in Andalusien – gestern waren sich alle Spanier einig: “Hände hoch, dies ist ein Überfall”, war einer der beliebtsten Slogans, und sofort sind alle Hände in der Luft. “Du darfst nicht schweigen, verteidige deine Rechte” oder “sie verkaufen das Gesundheitssystem, um die Banken zu retten” rufen die Menschen.
Mariano Rajoy und seine neoliberale absolute Mehrheit sollten sich nichts vormachen. Es mag sein, dass im heissen Urlaubsmonat August etwas mehr Ruhe herrschen wird (selbst daran zweifeln wir inzwischen), aber spätestens im September wird es den nächsten Generalstreik und unzählige weitere massive Protestveranstaltungen geben. Die Regierung bekommt keine Ruhe mehr, weil das Volk es so will. Es ist nicht mehr zu prognostizieren, wie es in Spanien weitergeht, ab diesem Punkt kann praktisch alles passieren. Gestern ging es fast überall friedlich ab, bis auf einen Vorfall direkt vor dem Madrider Parlament, der zwei Festnahmen zur Folge hatte. Das muss nicht so bleiben.