Walter Delaber skiziert die Situation von Gegenwartslyrik:
„Der Gedanke, dass Lyrik eine lernbare Schreibform ist, ist seit der Frühen Neuzeit weitgehend verloren gegangen. Was an Technik sonst geblieben ist, reicht aus, die seelischen Hygienefunktionen zu erfüllen, die wenigen Ausnahmen ausgenommen, die dann allerdings die Szene dominieren. Nichts also gegen Durs Grünbein, den derzeitigen lyrischen Dominator deutscher Zunge, der selbst vor dem lesenden Auge eines George Steiner zu bestehen vermag.“
um einen Standpunkt für eine Kritik von Heinz Schlaffers „Geistersprache, Zweck und Mittel der Lyrik“ zu geben:
„Geboten wird nämlich keine Aufklärung über Funktion und Struktur von Lyrik, sondern ein wohlfeiler Lyrik-Mythos, zu dem sich Schlaffer eine eher ironische Haltung erlaubt. Unernst oder genießerisch bleibt sich aber gleich unerheblich, zumal, wenn man ein alternatives Erklärungsmuster heranzieht, nach dem Lyrik lediglich – wie Raoul Schrott und Arthur Jacobs gemeint haben – ein besonders komplexes Erkenntnis- und Modellbildungsverfahren ist, das der Sprache insgesamt zueigen ist. Schlaffers Urszene lyrischen Sprechens erweist sich so gesehen vor allem der Fremd- und Selbststilisierung des Lyrikers – also einem sehr modernen Phänomen – verpflichtet als einem historischen Faktum.
Dass die Lyrik aus dem Gottesdienst stammen mag, ist dabei nicht einmal zweifelhaft, genauer gesagt relevant. Die Konstruktion selbst, die Szene, die dabei imaginiert wird, ist ja bereits der Wahrnehmung von Welt und der Bewältigung ihrer Anforderungen verpflichtet. De Götter haben nie geantwortet, es sei denn in der Imagination der sie Anbetenden. Sie haben weder die Lyrik noch die Lyriker ausgezeichnet, das haben beide fein selbst gemacht.
Gebet und Gottesdienst, lyrisches Sprechen wie Musik, Tanz oder Fest sind eingebunden in Wahrnehmungs- und Bewältigungsstrategien, die je historisch sind, die aber zugleich auf andere Wahrnehmungs- und Bewältigungsaufgaben und -strategien übertragen werden können. Einen Gott anzubeten ist eben, was das angeht, auch nichts anderes als eine politische Klasse zu attackieren, Kampftruppen zu bilden oder seine Geliebte anzustrahlen. Nicht von der angenommenen Ursprungsszenerie, sondern von der weitreichenden Funktionalität von Lyrik leitet sich ihre Langlebigkeit ab, eben auch hier heutiger Erfolg jenseits des akademischen und literarischen Betriebs.
Schlaffer liefert also keine Aufklärung über oder Erklärung von Lyrik, sondern treibt eine Mythenbildung voran, die sich wunderbar in die Rückzugsgefechte der Literaturwissenschaft einbettet. Besser das Gute, Alte, Archaische genießen, als sich auf die Zumutungen neuerer Hochschulstrukturreformen oder neuerer Textformen einzulassen. Irgendwie wird man doch aus der Germanistik wieder das Orchideenfach machen können, das es früher einmal war … Gelehrt und belesen, sein Material geflissentlich sortierend, dabei den gediegenen deiktischen Stil pflegend, der Widerspruch nicht duldet – das ist gehobene Kathederkunst der neuen Façon. Aber leider völlig unbrauchbar, denn es erklärt nichts.“ literaturkritik.de