70. Zeitlyrik

Die Zeit punktet weiter mit Lyrik. In der heutigen Ausgabe wird die Politikserie fortgesetzt mit 2 Gedichten von Ann Cotten, eins beginnt so:

Hab ich Angst vor den Arbeitern? Ja.
Hab ich Angst, dass sie aufhören zu
arbeiten? Vielleicht. Hab ich Angst, dass
sie mich verachten? Ja. Hab ich Angst
vor den Angestellten? Ja. Weil sie schlau
sind? Nein, weil sie schlechte Dinge
ausführen. Und keine Phantasie haben.
Hab ich Angst vor den Kritikern? Nein.
Vor Arbeitslosen? Nein. Sie haben genug
Zeit. Vor dem Wahnsinn? Ja.

Neu ist, daß der eher alberne Vorspruch fehlt, der stets so begann:

Seit dem 10. März versuchen wir im Politikteil der ZEIT, Politik von einer anderen Seite und auf andere Art wahrzunehmen. Elf Lyrikerinnen und Lyriker verfassen eigens für die ZEIT Gedichte, sie zeigen uns ihre Sicht auf die Politik. Mal schreiben sie unabhängig von den Ereignissen, mal gehen sie direkt auf politische Erlebnisse ein.

Womit wir anfangs nicht gerechnet hatten, ist die Fülle und Dichte der Ereignisse, wie wir sie seit Anfang dieses Jahres erleben.

Eben so politischer Smalltalk. Die Serie läuft in der 28. Woche, in den vergangenen Wochen mit Gedichten von Marion Poschmann, Michael Lentz und Hendrik Rost. Und immer noch im politischen Teil anstatt im Feuilleton. Zumindest in Augenkontakt mit Herrn Normalo-Leser oder bitteschön, Frau Normala. Das ist nicht nichts und es sind genug gute Gedichte für meinen Geschmack und sicher auch andere Geschmäcker. Aber es ist keine Mediensensation. „Lyrik“. Und das seit 28 Wochen.

Sensationell und schon seit gestern abend in allen Boulevards aber ist ein französisch geschriebenes Gedicht samt deutscher Interlinearversion. Man suche bei Google nach „Sexgedicht“, „Orgasmusgedicht“, „Orgasmuspoem“ oder so. Aber vorsichtig, nehmen Sie lieber Google News, Trittbrettfahrer werden sich schnell einstellen mit schärferer Kost. In der Zeit übrigens nichts dergleichen. Nichts als seriöse wissenschaftliche Kommentierung und der Text. Es handelt sich um ein vor 270 Jahren vom gerade inthronisierten König Friedrich II. von Preußen geschriebenes Gedicht. Er wollte einem Südländer beweisen, daß auch ein Preuße Wollust empfinden und ausdrücken kann. Der Herr hielt nichts von deutscher Dichtung und schrieb folglich auf Französisch. 10 Bände füllen seine Gedichte, aber dies eine fehlt. Die Zeit von heute druckt es zum ersten Mal. Nicht weil es wirklich weg war – offenbar haben es die Herausgeber von 1912 schamhaft weggelassen. Preußen eben. Dabei ist es gar nicht so „schlimm“. Metaphorische Leidenschaft, poetische Wollust in französischen Alexandrinern, die so klingen:

Divine volupté! Souveraine du monde!
Mère de leurs plaisirs, source à jamais féconde,
Exprimez dans mes vers, par vos propres accents
Leur feu, leur action, l’extase de leurs sens!

Göttliche Wollust! Herrin der Welt!
Mutter ihrer Genüsse, stets fruchtbare Quelle,
Bezeuge in meinen Versen mit Deiner Stimme
Ihr Feuer, ihr Tun, die Ekstase ihrer Sinne!

Naja, eben polierte Poesie, wie die deutschen Neutöner, die jungen Wilden der 1770er Jahre meinten. Goethe, Heine, Hoffmannswaldau & Co. haben da, auch da mehr zu bieten.

Hier die Zeit-Polit-Lyrik



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