Nach seiner Rehabilitierung fing Ai Qing wieder an zu schreiben. Bereits 1980 erschienen seine «Lieder der Rückkehr». Er konnte wieder reisen, so im gleichen Jahr in sein geliebtes Paris, «ville de mon cœur». 1985 wurde er vom französischen Staatspräsidenten Mitterrand mit dem Ordre des Arts et des Lettres geehrt. 1991 erschien die fünfbändige Gesamtausgabe seiner Werke, und als er am 5. Mai 1996 hochbetagt starb, war sein dichterisches Werk wieder Teil der Standardlektüre in den chinesischen Schulen geworden. – Ai Qing, vielgereister Kosmopolit und Kenner der westlichen Dichtung, beeinflusst von den erwähnten französischsprachigen Dichtern, von Whitman, Neruda und Majakowski, gilt als bedeutender Neuerer der modernen chinesischen Lyrik. Schon in der Bewegung des Vierten Mai von 1919 hatten chinesische Schriftsteller die Modernisierung von Gesellschaft und Kultur nach westlichem Vorbild gefordert. Ai gehörte bereits zur zweiten Generation von Dichtern, die in der modernen Umgangssprache baihua schrieben, sich von westlichen Vorbildern inspirieren liessen, moderne Themen und Motive aufgriffen, neue Bilder schufen und vielfältige Ausdrucksformen und freie Verse und Rhythmen einsetzten – dies im Gegensatz zur strengen, oft gereimten Form und den standardisierten Bildern der traditionellen Dichtkunst in der klassischen Literatursprache wenyan . ,,,
Während Übersetzungen von Ai Qings Werk im angelsächsischen Raum gut präsent sind, fehlen sie im deutschen Sprachraum weitgehend, abgesehen von einzelnen Gedichten in Anthologien. Eine Auswahl von Übertragungen seiner Lyrik, darunter «Dayanhe», «Der Norden» und «Schnee senkt sich auf China», bietet nur der schmale, schön gestaltete Gedichtband «Auf der Waage der Zeit» (Berlin Ost 1988), der nur noch antiquarisch greifbar ist. Angesichts des literarischen Ranges und der unbestreitbaren Qualität des Werks von Ai Qing wünschte man sich die Neuübersetzung einer repräsentativen Gedichtauswahl und eine kritische Würdigung seiner Persönlichkeit. / Barbara Strasser, NZZ