3. Oktober 1990: Der Erste meiner Art

Ein Volk triff auf ein Volk – Ein heiter-melancholischer Rückblick aus den Gründertagen

Als ich vor 25 Jahren im Auto sitze führt mich mein Weg nach Hause. Von Wittstock an der Dosse komme ich, mein Ziel ist Bielefeld.  ich wähle den Landweg über Kyritz, Rathenow, Ziesar. Dann die Autobahn A2. Das Wetter ist herbstlich trüb, hier und da hängen gesamtdeutsche Fahnen aus den Fenstern der Dörfer.  Es sind in diesen Tagen noch kaum Autos auf den Straßen – und auf dieser Strecke schon gar nicht. Daher habe ich Zeit und Muse zum Philosophieren und Resümieren an diesem geschichtsträchtigen Tag.  Im Gegensatz zu Deutschland bin ich nämlich schon seit Monaten wieder vereint, denn ich war und bin zu diesem Zeitpunkt der Erste meiner Art.

Teil 1:  Guten Tag DDR, wir sind auf der Überholspur angereist

9. November 1989. Ich muss mich erst einmal setzten. Die Mauer ist auf. Bilder im Fernsehen, die um die Welt gehen, Emotionen, die bei mir auch heute noch Tränen schiessen lassen. Sie sind immer noch da. Wunderbar. Ich will sofort nach Berlin. Geht aber nicht. Arbeit. Der nächste Tag im Büro: Habt ihr gesehen, habt ihr gehört? In Porta Westfalica soll der erste Ost mit hellblauem Trabi angekommen sein. Sollten wir da nicht irgendwie mal aktiv werden (ich arbeitete zu diesem Zeitpunkt in einer Agentur für Marketing-Kommunikation). Bei aller phi­l­an­th­ro­pischer Freude: Ein neuer Markt ist offen!!!

Was folgt sind die besten Tage unserer Republik

Die ersten Tage nach dem 9. November: Auf der Autobahn Frankfurt – Kassel fahre ich bis zur Abfahrt Richtung DDR ausschließlich an Trabi-Kolonnen vorbei. Es müssen 20.000 Fahrzeuge sein. Wir hupen und winken uns gegenseitig an. Ich fahre auf der linken Spur….gewöhnt euch schon mal dran. Wenig später im Zug fragt mich eine Familie aus Magdeburg nach der Wahl der richtigen Steuerklasse. Aber gern. Die ersten Ostdeutschen in unserer Gegend haben nach weniger als einer Woche einen Job, eine Wohnung und die goldene Nadel des Schützenvereins. Es menschelt in diesen Tagen. Vielleicht die besten Tage unseres Deutschlands.

Zeit für Eigeninitiative im neuen Land der unbegrenzten Möglichkeiten.

Dezember 1989. Wir entscheiden uns für ein berufliches Engagement in der DDR. Nur wo und wie. Kein Mensch hat eine Ahnung wie es wirklich hinter dem eisernen Vorhang aussieht. Wie nehmen wir Kontakt auf? Und vor allem zu wem? Planwirtschaft und Fünfjahrespläne sind nicht unbedingt mit Wettbewerb und Marketing kompatibel. Das werden wir ändern, denn wir fahren auf der linken Spur……

„Aborigines-Style“ für die Standortwahl

Also, hat jemand eine Idee für den passenden Standort? Nö. Berlin? Nö. Bisschen mehr „Aborigines-Style“ wäre schon gut. Schlussendlich werfen wir mit verdeckten Augen einen Dartpfeil auf die Landkarte der DDR. Dieser schlägt ein in dem Örtchen Burg zwischen Magdeburg und Brandenburg. Keine Wunder, wenn man versucht die Mitte der Karte zu treffen. Nun zum praktischen Teil. Wer ruft denn da jetzt an? Und was sagen wir? Erst mal Telefonnummer suchen. Gibt keine, die uns offiziell genug erscheint.  Versuchen wir es doch mal im nächst größeren Ort. Brandenburg an der Havel. Rat der Stadt. Was soll´s, gehen wir eben nach Brandenburg.

So einfach ist das aber nun wieder nicht. Nachdem wir hauptberuflich jemanden zur Schaffung einer Telefonverbindung nach Brandenburg degradiert haben ergibt sich ein erster Sprechkontakt schon in der ersten Wochen nach der Entstehung dieses kühnen Planes. Brizzel…. Brizzel… Brizzel….Piep…Pfeif……“Rat der Stadt….hallo Teilnehmer?“ (Ich hatte einige Zeit zuvor in Äquatorial-Guinea angerufen, das klang gegen diese Verbindung wie eine zu der Zeit noch nicht erfundene 128.000er Gourmet Internet-Leitung). Dieses Erlebnis sollte einzigartig bleiben. Zunächst. Denn zuständig für Kontakte mit dem kapitalistischen Ausland war dieser Rat der Stadt natürlich auch nicht. Wenn überhaupt, so sei der Rat des Bezirks Ansprechpartner in einer solch delikaten Angelegenheit. Und der hat seinen Sitz in Potsdam.

Der Prahl-Hans-Dekadenz-Auftritt

Es folgt ein identisches Prozedere. Aber mit Erfolg. „Dann kommense doch ma her.“ Geile Sache. Wir fahren in die DDR. Ohne Visum. Einfach so. Auf geht´s. Ein dunkelblauer BMW 750 iL scheint uns angemessen. Man möchte ja einen ordentlichen Eindruck hinterlassen. Das persönliche Outfit liegt zwischen Lagerfeld, Armani und Boss. Dazu ein aktueller Samsonite Hartschalen Koffer für Kurzreisen. Der Time-System Terminplaner in Leder eingebunden ist Standard,  dazu ein Du Pont Füller für den angestrebten Vertrag und natürlich der Parker Kugelschreiber für´s Grobe. Mit im Gepäck: Kippen und Schnaps „Made in USA“. Liebe Brüder, Ihr seid gekauft.

Warum ich das so ausführlich aufführe? Ich habe mich selten dümmer, affiger und deplatzierter gefühlt mit diesem Prahl-Hans-Dekadenz-Auftritt vor Menschen mit Hoffnungen und positiven Erwartungen an ideologische Quantensprünge und Verbesserung der elementaren Lebensqualität.

Aber: Unsere künftig neuen Mitbürger habe auch so einiges, ich will mal sagen „Skuriles“ ,im Angebot. Übernachtung im Kongress-Hotel Potsdam. Zwei Tage vor unserer Ankunft ist das noch die SED-Parteischule. Bezahlt wird nun in West, bedient und gearbeitet in Ost. Am ersten Abend möchten wir eine Kleinigkeit essen. Wir gehen in Richtung Großraum-Gastronomie und landen vorzeitig in einer Menschenschlange, etwa 15 Meter vor dem Eingang. Schlange stehen für eine warme Mahlzeit, obgleich der Laden nicht einmal halb gefüllt ist.

Die staatsmännische Ignoranz der Restaurant-Pinguine

Man hatte uns vorher gewarnt. Wir hatten es nicht geglaubt. Nun sind wir mittendrin statt nur dabei. Egal, es entsteht ein nettes, wenn auch noch sehr distanziertes Gespräch mit den anderen Wartenden in der Schlange. Mehrheitlich Einheimische. Schöne und unverbrauchte Dialoge. Man traut sich gegenseitig, und man traut sich gegenseitig etwas zu. Als wir dann den Eingang erreichen haben sagt der Türsteher: „Sie hätten sich doch nicht anstellen müssen, Sie sind doch unsere Gäste aus der BRD!“ So ein Arsch.

Die Kellner arbeiten mit einer unfassbaren Präzision an Gleichgültigkeit. Jeder von diesen Pinguinen hat ca. zwei Tische zu bedienen, sofern sie dazu Lust haben. Wir sind von dieser staatsmännischen Ignoranz nicht betroffen, denn wir haben die immer sehr geschätzten West-Devisen. Das zaubert kein besseres Essen auf die spärlich gefüllten Teller, aber das Chichi kann sich sehen lassen. Trotz der Warterei ist der Abend noch jung. Die Uhr zeigt auf Tagesschau (bzw. Aktuelle Kamera), schauen wir doch mal, was das Potsdamer Nachleben zu bieten hat.

„Herr Ober, bitte die Rechnung und ein Taxi!“

Die Rechnung ist ruckzuck da. Ein Händchen wird aufgehalten. So offensichtlich habe ich das selten gesehen. Der Kellner als Devisendealer. Oder was auch immer. Gierhals. „Wann kommt denn unser Taxi“? wollen wir noch wissen. Die Antwort ist ein Novum. Taxen, so heisst es, muss man einige Tage vorher bestellen. Im Klartext: Es gibt für uns an diesem Abend kein Transport. Da nützen auch Devisen nichts.

Grunz.

In dieser Sparta-Bude wollen wir trotzdem auf keinen Fall den ganzen Abend verbringen.  Promille ausdünsten reicht völlig. Später dann, viel später. Wir entscheiden uns alternativlos für den Fussweg in die Potsdamer Innenstadt, verbunden mit der Hoffnung, dass irgendwo auf dem unbekannten Weg sicher irgendeine Kneipe geöffnet ist und wir lokale Bierspezialitäten probieren können. Also nicht lange überlegen – auf geht´s.

„Immer auf der Hauptstraße entlang“, hat uns der Trinkgeld-gesegnete Restaurant-Pinguin wohlwollend erklärt. Genau das machen wir. Wir latschen mitten auf der Heinrich-Mann-Allee in Richtung Potsdamer Innenstadt. Nochmal zum mitschreiben: AUF der Heinrich-Mann-Allee, nicht auf dem Fussweg. Weit und breit keine Auto in Sicht auf dieser vierspurigen Straße, auf der 25 Jahre später der Verkehr lediglich nachts noch als fließend bezeichnet werden kann. Zeiten ändern sich.

Weit und breit schweift unser Blick vergebens in die Weite der Tristesse einer darbenden Welt.  Es ist grau in grau, keine Leuchtreklame, keine Plakate und vor allem: keine Menschen. Wir sind allein…..Kilometer auf Kilometer. Nur graue Fassaden und gelöschte Lichter. Ruinen, Zäune.

Gib mir 10 Mrd. und ich baue Dir eine neue Stadt

„Gib mir 10 Mrd. und ich baue Dir eine neue Stadt“, höre ich mich zu meinen Kollegen sagen. Unsere Party-Laune ertrinkt in der ungewollten Sight-Seeing-Tour. Dann ein Licht in großer Höhe. Da gehen wir hin, nur noch kurz über die Havel, am Stadtbahnhof vorbei, die leere Straße überqueren und hinein in das 18geschossige Inter-Hotel mit den vielen, vielen Antennen auf dem Dach. Doch genau da oben, im 18.Stock, da brennt der Flur in vielen Farben. Innen wieder Scharen von Gastro-Pinguinen, die ohne Devisen genauso wenig funktionieren wie ihre Gesinnungs-Brüder im Kongresshotel aka SED-Parteischule.

„Geschlossene Gesellschaft, da können Sie nicht rein!“ wird uns deutlich, mit starker Tendenz zu energisch, ausladend mitgeteilt. Also gut. Wir begreifen, dass der offizielle Weg heute Abend zu gar nichts Produktiven führt und wechseln unsere Strategie. (Wir sind die Marketing-Leute, das fällt uns doch leicht).  Ein Insider gibt uns den Tip, der uns definitiv den Abend retten wird. „Versucht es doch mal am Busbahnhof, da stehen manchmal private Taxen!“

Private Taxen – wie geht denn das im Sozialismus?

In Ermangelung von Alternativen und ausgestattet mit der typischen Wessi-Vergnügungssucht heisst die Parole des Abends nun: BUSBAHNHOF. Auf dem Weg dorthin passieren wir noch einen weiteren Insider-Tip, den Klosterkeller, der aber wegen Renovierung bis auf alle Ewigkeiten erste einmal geschlossen ist. Später, 1997 war ich mal dort. Da war geöffnet.

Den Busbahnhof erreichen wir gegen 21.30 Uhr. Surprise. Surprise. Dort befinden sich einige junge Menschen. Ich bin ja auch noch recht jung und spreche die drei Jungs direkt an. Dass wir Wessi sind muss ich nicht erklären. Die drei sind von der NVA, wollen die neue Freiheit genießen und suchen tatsächlich wie wir drei ein privates Taxi. Das schafft Gemeinsamkeiten. Wir unterhalten uns extrem angeregt und engagiert, 40 Jahre mal zwei sind 80 und wollen erst einmal bilateral erklärt werden.

Derweil nähern sich im Schritt-Tempo zwei weinrote Fahrzeuge der Marke Lada. „Da“, sagt der eine NVA Soldat. Sorry, aber das kann ja nun alles bedeuten. Da  – die Stasi? Da  – zwei neue Ladas? Da – zwei Kumpels? Da – die NVA? Da- Essen auf Rädern? Oder was?

Nein. es sind tatsächlich zwei private Taxen. Ich glaub´s ja nicht. Jetzt  bleibt nicht viel Zeit zum Überlegen, denn wir sind nicht die einzigen auf dem Busbahnhof, die wegen eines Taxis hier rumoxidieren. So wie wir stehen , genauso so gemischt steigen wir in die beiden roten Mensch-Transporter. Dass heisst im Ergebnis: Ich und zwei NVAs in einem Auto. Der Rest im anderen Auto. Unsere Wege trennen sich für den Rest des Abends.

Weltpolitik im weinroten LADA

Der Lada fährt an. Im Fahrzeug herrscht eine freundschaftliche und erwartungsvolle  Atmosphäre. „Meine“ beiden Soldaten und ich kommen aus dem Plaudern nicht mehr raus. Der Fahrer bringt sich ein. So kann es stundenlang weitergehen. Aber wir müssen unsere mauerneinreißende Systemdiskussion kurz unterbrechen, denn der Fahrer braucht ein Reiseziel. Uff. Wohin in einer Stadt, die so zu ist wie ein Asiate nach zwei Flaschen Schnaps? Wohin in einer Nacht, die so einzigartig ist?

Einer der NVAs schlägt Berlin vor. „Aber West“, sage ich. „Klar, was sonst!!“ kommt aus allen anwesenden Kehlen. Jetzt wird es historisch. Der direkte Weg nach Wannsee ist nicht besonderes weit und führt uns über die Glienicker Brücke. Die Spion Bridge im Kalten Krieg. Auf dieser Brücke tauschten die Systeme bis vor ein paar Wochen ihre gefangenen Spione aus.

„Und heute fährste da so rüber“, denke ich. Irre.

Ganz so geht es dann leider nicht. Da steht noch ein sehr offener Grenzposten im Weg. Die Tatsache, dass wir mit einer Ost-Möhre unterwegs sind ermutigt den Grenzer offensichtlich zu Handlungen mit 40jähriger Übung. Wir werden rechts ran gewinkt, man fragt nach dem Ausweis.  Ich habe einen, der Taxifahrer auch. Ost/West in einem Auto geht also. Die beiden NVAs sollen aber auf jeden Fall ihren Truppenausweis vorzeigen, sonst geht es für alle an dieser Stelle nicht weiter. Haben die aber nicht. Also brauchen wir einen neuen, einen ersten gesamtdeutschen Plan,

Schnell noch in die Kaserne und dann nach Wannsee

Da die beiden Wehrpflichtigen natürlich schon mehr deutsche Einheit im Kopf haben als der zu Fleisch gewordene Grenzpfosten ziehen wir das gemeinsam durch. Ein Taxi, ein Wessi, ein Taxifahrer und zwei NVA Soldaten fahren in die Mittelmark (keine Ahnung mehr wo genau wir da waren), holen diese dämlichen Ausweise und stehen ca. 45 Minuten später wieder auf der Glienicker Brücke.

Nachdem der Grenzer sein hoffentlich letztes innerliches Missionsfest zu Lasten Dritter gefeiert hat sind wir eine Minute später in Wannsee. Zum ersten Mal. Ich war da noch nie. Die anderen drei waren bis zu diesem Augenblick noch nie im Westen. Bier, Baguette, endlose Gespräche, gemeinsames Lachen, gemeinsame Zukunft. Es sollte ein legendärer Abend werden, der alles das bestätigen wird, was ich mir in meine kühnsten Träumen erhofft hatte.

Als ich am nächsten Morgen im Kongress-Hotel aka SED Parteischule schön verkatert aufwache bin ich ein Anderer. Und das ist auch gut so.

Lesen Sie inTeil 2: Gier frisst Gehirn.  Die DDR-Staatsmacht gibt sich ein Stelldichein.


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