22. November 2010, Schlierenland, 5.50 Uhr

Das ist ein Schlierenland. Die Nase drückt sich an die Scheibe, während der Zug durch Trostlosigkeiten rattert. Umgeben von Textfetzen. Natürlich, erklärt eine weibliche Stimme, habe ich dann Fotze gesagt, und die, fragt der Freund zurück. Die Antwort erlischt in der Frage des Schaffners nach dem Fahrschein. Seraphe zeigt die am Automaten gezogenen Karten vor. Er tippt sich an die Kappe. Erlernter Fingerzeig. Er wankt wie betrunken weiter. Im nächsten Augenblick tönt seine Stimme körperlos. Ihre Karte, ich will jetzt Ihre Karte. Immer wieder. Die Seraphe beugt den Oberkörper. Sie sieht mich an. Hebt die Schultern. Ihre Karte, ich will jetzt Ihre Karte. Deutsche Hartnäckigkeit. Berufsehre. Der ist aber ausdauernd. Ihre Karte, ich will jetzt Ihre Karte. Ein Gesang. Schließlich stürmt der ganz in Schwarz gekleidete schwarze Schwarzfahrer mit starrem Blick an uns vorüber. Der Schaffner folgt. Ich informiere jetzt die Polizei, ruft er. Dann sind sie verschwunden. Den Blick wieder ans Fenster kleben. Sichten. Industrieanlagen. Leere Parkplätze. Betonfeiler mit Zeichnungen. Die letzten jungen Wilden, denke ich. Ich ziehe den Kopf zurück, schiebe ihn wieder nach vorne, bis ich mein Spiegelbild durchbreche. Schleifgeräusche. Eine Durchsage, die man nicht versteht. Der Regionalzug nach Frankfurt dauert. Der Körper wird von einer unsichtbaren Hand nach vorne gezogen, dann los gelassen. Rückfall in das fleckige Polster. Ich sortiere mich, linse auf den Bahnsteig. Maschinengewehrbewaffnete Polizisten. Bedrohtes Deutschland. Terrorgefahr. Noch scheint das Land sich gegen ein mediales Inferno zu wappnen. Ernste Polizistengesichter. Geübt für den Ernstfall. Ratatata! Maschinengewehrmündungsart. Nie gehört. Also schließe ich die kinoverseuchten Augen. Stelle mir das Vorstellbare vor. Terroristen, die plötzlich auf dem Bahnsteig erscheinen, die sofort das Feuer eröffnen. Leiber, die wie leere Flaschen kippen. Ich schüttele den Kopf. Scham. Ruckend setzt sich der Zug in Bewegung. Die Landschaft schiebt sich an mir vorüber. Relativität. Wer bewegt sich hier? Die Welt ist eine Kulisse, die an uns vorüber geschoben wird. Die Seraphe streichelt mir über die Wange. Ich erwache. Was, stammele ich. Du hast geschlafen, sagt sie. Geschlafen. Wach jetzt auf. Ich reibe meine Augen. Sehe mich um. Sehe hin zur Fensterscheibe. Schlierenland, denke ich. November, sagt die Seraphe, einfach nur November.



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