16. Stück: „Onkel Wanja“ von Jürgen Gosch am 24.10.2010 im Thalia Theater / Hamburger Theaterfestival

Brecht und Tschechow im Schuhkarton

Eine weitere Produktion, die für das Hamburger Theaterfestival zum ersten Mal in die Hansestadt geholt wurde, ist Jürgen Goschs Inszenierung von Tschechows „Onkel Wanja“. Die Bühne besteht aus einem Guckkasten, der karg und leer ist und innen notdürftig mit hellbrauner Farbe überpinselt wurde. Sie sieht aus wie ein Schuhkarton. Klar begrenzt, eng und erdrückend.

Der Schuhkarton symbolisiert die Tschechowsche Welt schwüler Langeweile, die nur mit Galgenhumor zu ertragen ist. Angenehm unaufgeregt lässt Gosch seine Schauspieler die Geschichte von „Onkel Wanja“ erzählen: Ein Professor besucht mit seiner jungen Frau seine Tochter und ihren Onkel und tyrannisiert während seines Aufenthalts seine ganze Umgebung. Eine lähmende Lethargie breitet sich über den Hof aus und jede Figur ergibt sich ihrer Trägheit oder lässt sich vom Professor vereinnahmen. Es geht um Glück und Unglück, Liebe und unglückliche Liebe, Melancholie und Wehmut. Dem distanzierten, trockenen, nüchternen Spiel der Schauspieler sei Dank rutscht diese Erzählung jedoch nie ins Kitschig-Klebrige ab, sondern bewahrt im Gegenteil den hintergründigen, feinen Humor der typisch für Tschechow ist.

Setzt man Tschechow-Stücke oft mit Stanislawski und seinem naturalistischen Schauspielstil in Verbindung, hat Gosch sich hier für das komplette Gegenteil entschieden. Unverkennbar hat sich der im letzten Jahr verstorbene Regisseur an Brechts Theaterdramaturgie orientiert. Die Spieler zeigen ihre Figuren, anstatt sie zu sein. Auch ist während des gesamten Abends immer das komplette Ensemble auf der Bühne, die Auf- und Abtritte sind offen gelegt, nichts wird versteckt. Auch die leere, nüchterne, abstrakte Bühne bietet keinerlei naturalistische Illusionen. Es besteht keine Gefahr der Einfühlung und der Einbildung, man befände sich woanders, als im Theater. Das mutet heutzutage schon beinahe nostalgisch an, passt aber wunderbar zum Stück. Besser vielleicht sogar, als echte Grillen und originales Hundegebell (das, so informiert das Programmheft, tatsächlich Bestandteil der Stanislawski-Inszenierung von „Onkel Wanja“ war, und Tschechow nicht unbedingt fasziniert hat. Er fand es wohl ziemlich grotesk). Zum Einen passt das Motiv der Nostalgie gut zum Stück, in dem es um verpasste Chancen und unerfüllte Sehnsüchte geht und deren Figuren die Vergangenheit gleichzeitig vermissen und bereuen. Zum Anderen bildet die nüchterne, sachliche Darstellungsart auch ein Gegengewicht zur vorherrschenden Melancholie in der Atmosphäre des Stücks. Durch diese Gegensätzlichkeit tritt diese Atmosphäre noch stärker hervor.

Zuweilen ist die Inszenierung aber leider fast schon zu distanziert. Beinahe steril. Es fehlt ein bisschen an Magie, an „Feenstaub“, der aus einem perfekten Theaterabend einen unvergesslichen Theaterabend macht. Das ist aber auch das Einzige, das es auszusetzen gibt. Goschs „Onkel Wanja“ ist tolles Schauspieler-Theater, fantastische Ensemble-Arbeit und der Beweis dafür, dass sich auch mit den Mitteln des Regietheaters Geschichten erzählen lassen, die dem Geist eines Stückes gerecht werden. Solche Inszenierungen sollten eigentlich allen Meckerern, die immer nach Werktreue krakeelen, sobald ein Stück ein bisschen anti-illusorisch angehaucht ist, den Wind aus den Segeln nehmen.

 

(Isabelle Dupuis)

P.S.: 08.12.2010 – Mittlerweile muss ich meine Meinung, in Goschs „Onkel Wanja“ fehle es an „Feenstaub“, relativieren. Der ‘Zauber’ dieser Inszenierung entfaltet sich erst im Nachhinein, wenn man die Aufführung in Gedanken Revue passieren lässt.


Filed under: Kritik Tagged: Bühnenbild, Brecht, Ensemble, Festival, Inszenierung, Regie, Schauspiel, Stilmittel, Verfremdungseffekt

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