15. Dezember 2010, Nur eine Ecke oder: Der letzte große Führer, 5.53 Uhr

Ich habe doch nur dieses eine Leben, diese eine Wahrheit, also schlägst du wieder einmal die Augen auf, denn da will wieder ein Tag in die Knie gezwungen werden.
Du heftest die Augen an die stuckverzierte Ecke, die nur eine Ecke ist, nur eine Ecke, du würdest es so gern lauthals heraus schreien.
Die junge Frau, dieses Kätzchen, wie du sie am Abend zuvor beim Liebesspiel genannt hast, schläft noch. Sie schnurrt. Du hörst genauer hin, nein, sie schnarcht. Am Ende ist sie ein Mensch. Sie schnarcht und furzt und ruft nach Hilfe, wenn sie welche benötigt.
Pah, Menschen, denkst du, und weil sie Menschen sind, deshalb kaufe ich sie ja auch.
Noch starrst du die Ecke an.
„Ein geschichtsträchtiges Haus“, sagte der Verkäufer.
Du suchst seit Jahren nach der Faszination, die sich in all dem Stuck verbergen soll. Aber du findest nichts. Nur Ecken. Nur Flure. Zimmer. Darin du und all diese jungen Frauen, die du befriedigen willst, die DU befriedigen musst. Dank sei Viagra! Und zum ersten Mal lächelst du an diesem Morgen.
Die Zeitungen werden voll von dir sein. Deine Visage wird dich ansehen. Anstarren! Du wirst auf dich selbst hinab sehen.
Der letzte große Führer in dieser Welt.
Weil sie käuflich ist, deshalb bin ich noch der letzte große Führer, denkst du.
Und dann schließt du die Augen. Du lässt den letzten Tag Revue passieren. Dieser billige Aufruhr im Parlament. Gott, wie sehr du die Demokratie hasst. Dein linker Arm zuckt. Du versuchst deinen Körper zu beruhigen. Ich liebe die Demokratie, flüsterst du rasch, ich liebe sie. Ich liebe den Kapitalismus. Geld hat mich doch erst zu dem gemacht, was ich bin.
Du schlägst die Augen wieder auf.
Die Ecke ist noch da.
„Eine Ecke“, sagst du leise. „Das ist nur eine Ecke, das ist nur ein Haus. Ich könnte es abreißen lassen. Und dann wieder aufbauen. Das alles hat keine Bedeutung. Das sind Kulissen. Ja, Kulissen.“ Das Kätzchen neben dir schnarcht lauter. „Und du, mein Kätzchen, bist nur eine Laune meines Lebens. Eine namenlose Nebendarstellerin.“ Du lächelst. Sacht. Es ist nur eine leichte Verwerfung der Lippen.
Du hast den gestrigen Tag überstanden, diese lachhafte Operettenaufführung im Parlament, also wirst du auch diesen Tag überstehen.
Warum nur darf ich nicht auf die Studenten schießen lassen, denkst du. Das ist doch eine Schande! Ein Skandal! Das Stück, dein Stück würde dadurch an Dramatik gewinnen, an Würze, an Tiefe. Der Tod war stets ein Mittel, die Aufmerksamkeit der wegdämmernden Zuschauerschar zu gewinnen. Einige Schüsse hier, einige Schüsse dort. Den Frieden würdest du dir dann schon kaufen. Du hast Geld. Du hast Beziehungen. Und vor allem hast du die Wahrheit erkannt. Du findest sie seit Jahren beim Erwachen, wenn dein Blick hinüber in diese Ecke gleitet.



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