Zwischen Teamtalk und Todesangst – Ein Bericht aus der neuen Normalität

Es ist der elfte Tag meiner selbstgewählten Quarantäne. Sie begann mit einer art von Urlaubsgefühl, inzwischen wechseln sich Phasen der Zuversicht mit dunklen Phasen der Angst ab: Ein Bericht aus dem neuen Alltag.

Am Freitag wurde meine Liebste 50 Jahre alt. Eigentlich hatte sie es mit Freund*innen feiern wollen, es waren von uns schon einige kleine Überraschungen vorbereitet worden. Doch dann kam die Corona-Krise dazwischen, und wir mussten improvisieren. Obwohl wir beide eigentlich auch eine ganze Weile lang für uns leben können, so ist es doch etwas ganz anderes, ob wir die Möglichkeit zu einem Besuch bei Freund*innen haben oder nicht. Und was machen wir, wenn ein so schön geplantes Fest ausfällt?

Das Schöne ist: Wir haben eine Antwort gefunden, sie lautet Teamtalk, eine freie Konferenzsoftware, mit der sich barrierefrei kommunizieren lässt. Schön eben auch, dass es diese wirklich gut gemachte barrierefreie Version gibt. Wir benutzen das Programm seit letztem Jahr für die
Ohrfunk-Teamsitzungen. Also installierten sich alle Gäste die Software auf ihren Handys und Rechnern, besorgten sich am Freitag ein Stück Kuchen und einen Kaffee, und um 15 Uhr trafen wir uns mit 10 Leuten in einem Chatraum und plauderten drei Stunden miteinander. Das Gefühl war umwerfend: Manchmal glaubten wir, sie säßen wirklich alle bei uns im Wohnzimmer, das Geschirr klapperte, der Kaffee wurde umgerührt. Es war ein entspannter, kraftspendender Nachmittag mit Freund*innen, den wir sehr genossen haben. Ab morgen werde ich während meiner Arbeit für den Ohrfunk auch im Chatraum anwesend sein, man kann dann bei mir vorbei schauen und Hallo sagen, wenn man den Zugang besitzt. So kämpfen wir gegen die Einsamkeit. Damit es keine Rückkopplungen gibt, haben wir bei unseren Zusammenkünften Kopfhörer auf, aber das stört eigentlich nicht.

Es zeigt sich, dass wir diese Kommunikation, dieses Miteinander dringend brauchen. Kaum waren unsere Freunde weg, erfuhren wir von einem tragischen, bevorstehenden Todesfall im Bekanntenkreis. Es ist nicht Corona, aber gerade diese Familie war in den letzten Monaten schon einmal von einem schweren Todesfall betroffen. Gleichzeitig erzählte die Schwester meiner Liebsten, dass sie und ihr Mann nun bald in einer Corona-Station im Krankenhaus arbeiten werden. Was, wenn sie sich anstecken? Was, wenn die Krankheit schwer verläuft? Was, wenn sie sterben? Nachts kommen dann die Gedanken, die Angst, die Verzweiflung. Welche Opfer werden wir alle bringen müssen? Meine Schwiegermutter ist nicht mehr die Jüngste und hat auch Lungenprobleme.

Am Morgen, als ich auf Twitter meine Runde drehte, nachdem ich schlecht geschlafen hatte, las ich folgenden Tweet:

https://twitter.com/ne_ratte/status/1241280693801570305

Vor einigen Jahren las ich das Buch “Blackout” von Marc Elsberg. Darin beschreibt er, wie aufgrund einer Sabotage in ganz Europa der Strom ausfällt, insgesamt 14 Tage. Während dieser Zeit bricht unsere Gesellschaft zusammen. Elsberg hat dafür sowohl Preise in der Sparte Unterhaltungs, als auch in der sparte Sachliteratur gewonnen. Sein Szenario ist realistisch. Ich machte mir klar, dass aufgrund der Coronakrise absolute Notbesatzungen in Kraftwerke gesperrt werden, damit es hier nicht zu einem Blackout kommt. So weit sind wir schon? Ist unsere Gesellschaft, unsere Zivilisation schon so nahe am Abgrund? Seit die Zahl der Coronafälle in Deutschland zu steigen beginnt, sind – von dem Betrieb in Bayern ende Januar abgesehen – 27 Tage vergangen. Die Regierung gibt die schwarze Null auf, riesige Rettungspakete für die Wirtschaft werden geschnürt. Alle versuchen wir, mühsam unsere Zivilisation am Laufen zu halten.

Und dann kommt die Pressemeldung des Paritätischen, dass soziale Dienste von der Bundesregierung nicht unter ihren neu aufgespannten Rettungsschirm genommen werden. Soziale Einrichtungen werden also in den kommenden Wochen insolvent werden, z. B. Kitas, Pflegedienste, Jugendhilfeeinrichtungen, all die Dinge, die man gerade jetzt braucht, und die man plötzlich für systemrelevant erklärt hat. Wieder nur dummes Gerede, die neoliberalen Kahlschläger setzen sich durch. Es ist entsetzlich, macht Angst für die Zukunft.

Es hat einen Anschlag auf eine Eisenbahnbrücke in Hessen gegeben. Auf 80 Metern hat jemand Schrauben gelockert und beinahe einen Zug zum entgleisen gebracht. Warum gerade jetzt? Ist das der anfang des Zusammenbruchs, des Verlusts aller Hemmungen? Aber dann schalte ich doch wieder die Vernunft ein: Dass das gerade jetzt passiert, dürfte Zufall sein, was hat dieser Anschlag mit der Coronakrise zu tun? Man darf und muss nicht alles in Beziehung setzen.

Kommt sie nun, die Ausgangssperre? Wenn ich von Corona-Partys höre, halte ich es für richtig. Doch was bedeutet das? Wir sind mit Maßnahmen einverstanden, sehnen sie sogar herbei, die unsere Freiheiten massiv einschränken. Niemand kann uns sagen, wir wären nicht gewarnt worden: Viele Politiker*innen, auch CDU-Politiker*innen, haben lange gewarnt, sie möchten lieber verantwortungsvolle Bürger*innen sehen, als staatliche Maßnahmen ergreifen zu müssen, die unsere Freiheiten einschränken. Aber viele Bürger*innen haben sie nicht gehört, eine einmalige Chance verpasst, verantwortlich gestaltend an einer freien Gesellschaft mitzuwirken. Jetzt kriegen wir die Quittung. Also: Wir wollen die Ausgangssperre, oder?
Dieser Kommentar im Deutschlandfunk und Dieser Beitrag im Spiegel sei allen ans Herz gelegt. Auch in einer Krisensituation müssen wir über Zwangsmaßnahmen und
Freiheitseinschränkungen mindestens debattieren, und wir müssen dafür sorgen, dass sie begrenzt bleiben. Sonst erkennen wir unsere Gesellschaft später nicht wieder. Eine Leseempfehlung noch für die, die sich für Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie interessieren: Im
Verfassungsblog erschien ein guter Artikel über den Ausnahmezustand
.

Zurück in meine kleine Welt, die in wenigen Stunden von den Füßen auf den Kopf gestellt wird. Hier sitzen wir noch mit Freund*innen zusammen und besiegen die Einsamkeit, dort brechen Nachrichten herein, die Angst machen. Noch immer fürchte ich mich nicht vor dem Tod durch Corona, auch wenn ich mit meinem hohen BMI sehr wohl zu einer Risikogruppe gehöre. Doch die Quarantäne, die ich einhalte, macht es mir eigentlich unmöglich, mich derzeit anzustecken. Sollte es mir aber dennoch irgendwann geschehen, ist es für Todesangst immer noch früh genug, und dann werde ich sie sicher auch nicht aufhalten können. Jetzt aber schaue ich hinaus, sehe, wie die Gewissheiten wegbrechen, die Grundversorgung am seidenen Faden hängt, wie Verrückte damit beginnen, an der Infrastruktur zu sägen, wie der Sozialstaat von den Rettungsmaßnahmen ausgeschlossen wird, wie in der Quarantäne und während der
Ausgangssperre das Beste und das Schlimmste im Menschen zum Vorschein kommt. Und wenn ich das sehe, empfinde ich Angst.

Allerdings wechselt es: Jetzt, wo ich das schreibe, an einem kalten, ruhigen Sonntag morgen, empfinde ich sie nicht konkret. Es ist alles so normal draußen, hier rauscht der Computer, ein Bus fährt vorbei, die Vögel singen. Manchmal, in der Stille der Nacht, während einer Bestandsaufnahme mit meiner Liebsten, auf Twitter oder bei der Verfolgung aktueller Nachrichten schlägt die Angst plötzlich zu. Oder wie es eine Freundin gestern formulierte: “Vor einer Woche war doch alles fast noch so normal!” Es ist die rapide Veränderung, die uns Probleme macht.

Dabei sind nicht alle Nachrichten schlecht: In Lübeck und Marburg wurde ein erster Hemmstoff gegen Corona entwickelt, der allerdings bei dieser Epidemie noch nicht zum Einsatz kommen wird. Und der Zukunftsforscher Matthias Horx hat eine Vision darüber verfasst, dass man die jetzige Krise auch als Chance begreifen kann, wenn man sie aus der Zukunft betrachtet.

Manchmal erstaunt es mich, einen Menschen mit depressiver Neigung, wie gut ich bis jetzt durch diese Tage komme. Ich war gut vorbereitet, habe mich seit Januar intensiv über Corona informiert und habe schon mit den ungehörten Expert*innen gewarnt, als man mich noch für einen Schwarzseher hielt. Sorgsam habe ich mir meine Quellen gesucht, ignoriere sensationelle Eilmeldungen komplett und verfolge eher größere Abläufe als aktuelle Aufreger. Ich bin froh, während dieser Wochen nicht allein zu sein, es ist eine unglaubliche Hilfe, dass meine Liebste zu Hause bleibt. So pendelt mein Alltag hin und her zwischen der tollen Erfahrung einer virtuellen Geburtstagsparty mit echtem Kuchen und mancher schwarzer Stunde in den Tiefen der Nacht. Dann lese ich hier die aktuellen Zahlen und grusele mich, wie schnell es geht, und was exponenzielles Wachstum wirklich bedeutet. Andererseits hat mich positiv die Rede der Bundeskanzlerin sehr beeindruckt.

Am Freitag morgen hat sich der Ohrfunk durch mich an der Aktion gegen Mutlosigkeit und Einsamkeit beteiligt, bei der zur selben Zeit in ganz Europa “You’ll never walk alone” von Gerry and the Pacemakers gespielt wurde. Es war ein schönes Gefühl, daran mitarbeiten zu dürfen, einen kleinen Beitrag geleistet zu haben. Am Nachmittag habe ich das gemeinsame Klatschen für die Mitarbeiter*innen des Gesundheitssystems verpasst, weil ich gerade Kuchen aß, aber beim nächsten Mal bin ich dabei, und wenn ich der einzige Nachbar sein sollte, der es tut. Und wenn wir alle eine Kerze ins Fenster stellen, damit man uns auf dem Mond noch sieht, wie wir unseren Überlebenswillen und unsere Zuversicht bekunden, dann werde ich ebenfalls dabei sein. Es mögen kleine Gesten sein, aber sie sind wichtig, mindestens für uns selbst, hoffentlich auch für Andere.

Ich wünsche Ihnen allen Gesundheit, Mut und Kraft!

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