Wirklich mehr Demokratie? Zum Ausländervolksentscheid in der Schweiz

Wollen wir nicht alle “mehr Demokratie wagen”, wie Willy Brandt einmal formulierte? Die Meisten würden dieser Forderung mit Begeisterung zustimmen, weil man sich dann gegen eine überhebliche, maßlose und selbstherrliche Politikerkaste durchsetzen könne. Bloß wenn dann eine Volksabstimmung nicht die eigene Meinung widerspiegelt, ist es auch nicht recht. Dann fällt es schwer, ein Ergebnis zu respektieren, und man verkündet vollmundig, das Volk habe sich von Demagogen einlullen und benutzen lassen. Dieses Dilemma kann man im Augenblick auf geradezu klassische Weise in der Schweiz beobachten.

Das Volk ist im großen und ganzen mehrheitlich konservativ, haben einmal Meinungsforscher behauptet. Zur Unterfütterung dieses Arguments haben sie erklärt, dass ein Volk, das im relativen Wohlstand lebe, das Bestreben habe, diesen Wohlstand zu behaupten. Deshalb lehne es große Veränderungen ab, abgesehen von solchen, die die Situation zu seinen Gunsten verändere. Nicht jede Abstimmung gegen die Liberalisierung des Ausländerrechts hat rassistischen Charakter. So zum Beispiel die sogenannte Eidgenössische Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung”. Sie wurde von der rechtspopulistischen schweizerischen Volkspartei (SVP) angestoßen und richtet sich gegen die Masseneinwanderung in die Schweiz. Die Zuwanderung soll nicht gestoppt, sondern begrenzt werden, jedes Land soll bestimmte jährliche Kontingente erhalten, so weit es der schweizerischen Wirtschaft nützt. Diese Initiative ist am vergangenen Sonntag mit einer äußerst knappen Mehrheit von 50,3 gegen 49,7 % der Stimmen angenommen worden. Alle Parteien bis auf die SVP, beide Kammern des Parlaments, die Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeber hatten sich gegen die Initiative ausgesprochen. Ein Jahr lang hatten die schweizer Bürger intensiv, vielseitig und kontrovers über dieses Thema debattiert. Dass die Initiative angenommen wurde, löste im In- und Ausland einen gewaltigen Schock aus, und sofort wurde das allseits bekannte Argument laut, die Schweizer seien Ausländerfeindlich eingestellt. Glückwünsche erhielten die Eidgenossen von rechtspopulistischen Parteien in Deutschland, Frankreich, Österreich, den Niederlanden und Großbritannien. Aber kaum jemand weiß wirklich, was da am 9. Februar 2014 von den Schweizerinnen und Schweizern tatsächlich beschlossen worden ist.

Die Schweiz hat einen Ausländeranteil von rund 23 %. Knapp 2 Millionen der gut 8 Millionen Bürger der Schweiz sind Ausländer. Zum Vergleich: Der Ausländeranteil in Deutschland liegt bei rund 8 %, ob wir das nun wahr haben wollen oder nicht. Früher nannte man die Schweiz deshalb auch zu recht das Gasthaus Europas. Von den rund 2 Millionen Ausländern sind rund 15 % Italiener, 15 % Deutsche, 13 % Portugiesen, 6 % Franzosen, 5 % Kosovaren, 4 % Serben, 4 % Spanier, 4 % Türken usw. Der größte Teil der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz kommt also aus den Staaten der EU, in der die Schweiz selbst kein Mitglied ist. Es gibt aber bilaterale Verträge, die die Freizügigkeit von EU-Bürgern auch auf die Schweiz ausdehnen. Die “Volksinitiative gegen Massenzuwanderung” richtet sich also vor allem gegen Bürger der EU, nicht so sehr gegen Ausländer im Allgemeinen, auch wenn wie üblich allgemein ausländerfeindliche Argumente benutzt werden. Der Ausländeranteil in der Schweiz ist auch deswegen so hoch, weil die Schweiz eine sehr zurückhaltende Einbürgerungspraxis pflegt, und weil dort ein Fachkräftemangel herrscht, der durch den Zuzug ausländischer Arbeitnehmer ausgeglichen werden muss. Auch deshalb ist unser kleines südliches Nachbarland bei den Deutschen so beliebt.

Will man die jetzt angenommene Volksinitiative gegen Massenzuwanderung also richtig verstehen, dann muss man begreifen, dass die Schweizer keineswegs einem versteckten Rassismus ihre Stimme gaben, sondern, und zwar mit äußerst knapper Mehrheit, dem Schutz und der Wahrung ihres Besitzstandes. Das mag unvernünftig sein, es mag sich auf die Dauer gegen die Schweizer kehren, weil die EU die Verträge mit ihr kündigt und die Wirtschaftsbeziehungen abkühlen, ein Ausdruck von Menschenverachtung und Ausländerfeindlichkeit im Allgemeinen ist es sicher nicht.

Manche sehen in der schweizer Entscheidung ein Argument gegen direkte Demokratie, weil das Volk so leicht beeinflussbar sei. Meiner Ansicht nach aber greift dieses Argument zu kurz. Natürlich wurden von den Befürwortern Argumente verwendet, die auch ich latent ausländerfeindlich nennen würde: Busse und Bahnen seien überfüllt, Bodenpreise und Mieten stiegen, Löhne gerieten unter Druck, Schweizer und auch Arbeitnehmer aus Drittstaaten würden durch EU-Bürger verdrängt, Ausländerkriminalität und Asylmissbrauch steige. Doch die Hauptargumente, die in der Debatte genannt wurden, bezogen sich fast ausschließlich auf die EU-Bürger, den Fachkräftemangel in der Schweiz und drohende Arbeitslosigkeit und Lohndumping. Das sind meiner Ansicht nach legitime Argumente.

Damit mich niemand missversteht: Ich lehne das Ergebnis der Volksinitiative gegen Massenzuwanderung in der Schweiz ab. Meine Argumente haben aber nichts mit einem moralischen Zeigefinger zu tun. Ich glaube nun einmal, dass es nicht geht, dass ein Land vom Handel und vom Geldfluss aus der EU profitiert, selbst aber seine Pforten für EU-Bürger schließt, das ist kein Fair Play und eine ziemliche “Rosinenpickerei”, wie einige Europapolitiker ausführten. Aber die Entscheidung ist demokratisch und legitim, sie ist nicht rassistisch und wurde breit diskutiert, durchaus auch mit Sachlichkeit. Wenn die Schweizer bereit sind, die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen zu tragen, zum Beispiel durch die Kündigung der Verträge mit der EU, dann soll es mir recht sein.

Übrigens: die größte Zustimmung zur Volksinitiative gab es in der deutschsprachigen und in der italienischsprachigen Schweiz, just in den Landesteilen also, wo man die Sprache der am häufigsten vertretenen Ausländer spricht. Das ist sozusagen Rassismus gegen die eigenen Mutterländler, und das wiederum ist absurd.

Heute will ich mal wieder einen Blogbeitrag veröffentlichen, obwohl das Thema schon fast kalter Kaffee ist. #fb

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Jens Bertrams Jens Bertrams

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