Von versunkenen Dörfern und seltsamen Fossilien – Caravan-Urlaub an Yorkshires Ostküste

Ich vermisse das Meer, die aufgeregte, stürmische See, das Krachen der Wellen an felsige Uferküsten, den Geruch von Weite und das Prickeln der salzigen Luft auf der Zunge. Ein Sommer ohne Strand und Wasserrauschen, ohne warmen Sand, der zwischen den nackten Zehen knirscht, ist kein richtiger Sommer. Wir haben Juni, ich sitze bei 14 Grad im Garten und habe Heimweh. Mir fehlt der Müggelsee, mein gelbes Schlauchboot, die flimmernde Hitze der Großstadt, die mich wie eine Decke umhüllt, sobald ich das Haus verlasse. Ich friere mir einen ab, während meine englischen Nachbarn in Badekleidung vor ihren Häusern lümmeln, den Kopf gen Sonne gestreckt. Bin ich zu soft? Verdammt, es ist Juni, Berlin schwitzt bei 30 Grad im Schatten und ich klammere mich an eine heiße Tasse Kaffee.

K(l)eine Erwartungen
Da wirft mir meine englische Familie unerwartet einen Rettungsanker zu: “Steffi wir machen einen Ausflug ans Meer.” Juchhuuuu! Freunde der Familie haben uns ihren Caravan zur Verfügung gestellt an Yorkshires Ostküste. Genaueres sagt man mir nicht, wie immer. Ich erfahre weder Ort, noch ungefähre Lage. Keine Chance auf Vorbarecherche, Sturz ins Ungewisse. In typisch britischer Manier gibts trotzdem ein paar aufmunternde Details: “Eigentlich ist dort nichts.”; “Der Caravan ist recht klein, nichts Besonderes”; “Wir müssen ja nicht lange bleiben”; “Hoffentlich langweilst du dich nicht.”. Na, da bekommt man doch Lust, sofort loszupreschen. Also stehe ich der Sache erstmal halbbeherzt gegenüber, freue mich aber trotzdem riesig auf die Nordsee. Und weil ja Sommer ist, oder vielmehr sein sollte, stopfe ich nur ein paar dünne T-Shirts in meinen Rucksack, eine dicke Regenjacke, Waschtasche, meinen Bikini und `ne dose Kaffee. Dann geht`s los. Zwei Stunden Autofahrt liegen vor uns.

Das englische Mecklenburg
Als wir die sonnigen Hügel Yorkshires schließlich hinter uns lassen, liegt vor uns nur noch plattes Land. Die Schafe werden kleiner, die Wiesen von Getreidefeldern abgelöst, ab und an ragt ein kleines Kirchtürmchen in der Ferne auf, die Trockenmauern sind verschwunden. Alleen und hohe Hecken säumen nun die Straßenränder. England hat also auch sein Mecklenburg-Vorpommern. Heimat liegt in der Luft. Nach ein paar Irrungen und Wirrungen fahren wir in einen Trailerpark ein, der sich „Cowden Holiday Park” nennt.

Die pompöse Einfahrt zum Cowden Holiday Park.

Die pompöse Einfahrt zum Cowden Holiday Park.

Jetzt bin ich echt baff. Ich hatte eine beliebige Ansammlung von halb verrosteten, nicht mehr ganz trendigen Wohnwägelchen erwartet, an denen dicht an dicht bierbäuchige Briten in Campingstühlen klemmen.

Südstaatenidylle
Und was bitte ist das? Das ist eine perfekt in Szene gesetzte maritime Kleinsiedlung aus fahrbaren Riesenwohnwagenbungalows, die mir in muschelschalenem Weiß entgegenleuchten. Fein herausgeputzt mit winzigen Vorgärtchen, Terrassen, bepflanzten Balkonen.

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In der Mitte der Anlage dösen an einem umzäunten Fischteich ein paar Angler in ihren Klappstühlen. Den großen Fang gibts hier zwar nicht, beziehungsweise darf ihn niemand behalten, sondern die glipschigen Spielzeuge werden gleich wieder brav ins Wasser geschmissen, aber ein wenig Zeit totschlagen und so tun, als ob kann man so allemal. Irgendwie versprüht das neckische Ensemble eine Art amerikanisches Südstaatenflair. Wenn jetzt da drüben aus der mobilen Villa Scarlet o’Hara von der Treppe hüpft, würde mich das nicht wundern.

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Okay, okay, verstehe, das hier ist vielleicht die gehobenere Klasse und wir fahren weit ins Hinterland, wo dann unser rumpliger Wohnwagen auf uns wartet. Doch wir halten, genau hier, vor einem der größeren Modelle. Meine Kinnlade klappt nach unten. Die verscheißern mich doch. “Na, was sagst du?”, fragt mich mein Engländer scheinheilig. Ich sage erst mal gar nichts, brauche erstmal Frischluft und will mir die Sache mal näher ansehen.

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Mit offenem Mund betrete ich die hölzerne Veranda und dann sehe ich es: das Meer in strahlendem Blau, direkt vor der Tür. Na ja, nicht direkt, aber viel näher, als ich erwartet habe. Mir kullern die Tränen über die Wangen vor Rührung. Ich kann mich gar nicht mehr beruhigen. Dann schlüpfe ich hinter den anderen ins Häuschen und bin schon wieder platt.

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Ich stehe mitten in einer richtigen Wohnung, drei winzige Schlafzimmer, Toilette, Bad mit Dusche, Küche mit Gasherd. Wohnzimmer mit Kamin (!). Nichts da, von wegen Camping und provisorische Unterkunft, das hier ist ja wohl Luxus pur. Ich habe sowas echt noch nie gesehen. Da stört es auch gar nicht, dass die Nachbarin uns ungeniert ins Fenster glotzt oder der Schäferhund nebenan verrückt spielt. Während meine Engländer ihren Ankunftskaffee fröstelnd in der Wohnstube schlürfen, mache ich es mir auf der Holzbank draußen in der Sonne bequem und ziehe Seeluft tief durch meine Nasenlöcher. Doch irgendwas ist komisch, irgendetwas fehlt. Na klar, das Gekreische von Möwen. Der Soundtrack der See. Die Kumpels scheinen anderswo mehr Spaß zu haben.

Unersättliche Nordsee
Nach der erquickenden Ladung Koffein geht es ans Wasser. Endlich! Es herrscht gerade Ebbe und die gibt einen breiten Spazier-Strand frei. Doch was ist das? Wo sind die weißen Kreidefelsen, die steilen, rauen Kliffe, in denen seltene Seevögel nisten? Stattdessen blicke ich auf harte braune Schlacke, die sich am Ufer erhebt.

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Die Küste von Holderness ist ein bröseliger schokoladiger Kuchenrand. Jahr um Jahr frisst sich die See zwei Meter weit ins Land. Circa 30 Dörfer sind bereits auf den Meeresgrund gesunken, für immer von der Küste gespült. Und die Erosion geht weiter. Allerorten trifft man auf herausragende Rohre, die einst zu Häusern gehörten, abgebrochene Parkplätze, in der Luft endende Straßen.

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Die See holt sich Stück für Stück zurück, was nur geliehen war. Während der Eiszeit, vor rund 12.000 Jahren schob sich ein riesiger Eisblock vor die hiesige Kreideküste. Als dieser schmolz, hinterließ er einen breiten Teppich an Schutt, Geröll und lehmigem Torf. Auf dieser neu gewonnenen Erde enstanden neue Siedlungen, doch das Meer kam zurück und nagte fleißig daran. An manchen Abschnitten, wie zum Beispiel in Mappleton, dem nächstgrößeren Ort, traf die Gemeinde Schutzvorkehrungen, errichtete Barrieren, die dafür sorgen, dass der Schutt zurückbleibt und einen als Pufferzone dienenden Strand bildet.

Der Schutzwall von Mappleton richtet die Erosion nach Süden.

Der Schutzwall von Mappleton richtet die Erosion nach Süden.

Das allerdings verschlimmerte die Erosion an der südlicheren Küste um Great Cowden, wo jetzt unser Wohnwagen steht.

Ein bombastischer Strand
Der Eingang zum Strand ist schildermäßig gespickt mit schwarzem Humor und britischer Gelassenheit. Das Militär wirft nämlich über dem Gelände fleißig Bomben ab. Das sind zwar Attrappen, aber sie sind dennoch hochexplosiv und brandgefährlich.

Na dann, Waidmanns Heil!

Na dann, Waidmanns Heil!

Der Vati meines Engländers berichtet stolz, wie er mal die Hülle eines solchen Prachtstücks gefunden und als Deko im eigenen Vorgarten aufgestellt hat. Als er erfuhr, dass selbst die harmlose Verpackung schnell das Verteidigungsministerium auf den Plan rufen kann, mit Straßensperren, Verhören, Kamerateams und, und, und, hat er das Ding dann doch heimlich wieder an den Strand gebracht. Wie auch immer, metallene Gegenstände aus dem Boden ziehen ist eh nicht so mein Ding. Das muss man hier auch nicht, denn es gibt genügend andere Sammlerstücke zu entdecken.

Im Fossilienrausch
Der hartgewordene Küstenschlamm steckt nämlich voller Fossilien. Ja, ernsthaft! Es wimmelt hier nur so von steinernen Urzeittierchen. Und so muss ich nicht lange warten, bis mir mein Engländer ein Ebensolches unter die Nase reibt. Ein Bruchteil eines Ammoniten, einer Urzeitschnecke. Während mein Engländer das putzige Dingelchen gleich wieder hinschmeißen mag, weil es nichts Halbes und nichts Ganzes ist, reiße ich mir den Fund gleich mal unter den Nagel. Immerhin war ich Zeuge. Das einzige Fossil, das ich je besessen habe, ist ein Trilobit vom Berliner Flohmarkt. Der war so schwer, dass ich ihn gleich mal als Türstopper eingesetzt habe.

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Als mir der englische Herr Papa dann aber vom Jetstone (Gagat), dem schwarzen Gold der englischen Küste erzählt, das ähnlich wie Bernstein zu modischem Schmuck verarbeitet wird, bricht das Jagdfieber in mir aus. “Nehme einen Stein und reibe das schwarze Stück daran. Wenn es schwarz wird, ist es Kohle, wenn es braun wird, Jet.” Ungeachtet der herannahenden Flut drehe ich jeden Stein um, richte mein Auge adlergleich auf jeden dunklen Fleck am Boden, sammle, teste, prüfe. Aber ich finde nur Kohle. Verflucht nochmal! Der Wasserstand steigt unaufhörlich. Zeit, die Biege zu machen.

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Clubhouse Blues
Der Abend ist eh am Ausklingen und wo ist man in England da am besten aufgehoben? Klar. Im Pub. Der ist hier allerdings ein Clubhouse mitten im Caravan-Park. Innen gähnende Leere. Wir schrecken die hinterm Tresen weggenickte Bedienung auf und bestellen unsere Drinks. Zwei Lager, einen Merlot. Als ich nach dem Weinglas greife, wird mir schlecht. Da klebt ein schmieriger Lippenstiftabdruck mitten drauf. Iiihgittigitt!!! Ich bleibe höflich, verlange aber ein neues Glas. Unbekümmert wie eine Waldente schenkt mir die Blondine neu ein. Aber auch das Glas ist schmierig. Meine Güte, ich habe Durst und keine Lust, der Dame zu erklären, dass beim Abwaschen ein Lappen ganz hilfreich wäre, anstatt das Glas nur kurz unter den Hahn zu halten. Ich suche mir eine winzige saubere Stelle und nippe den ganzen Abend in winzigen Schlucken daran. Der Effekt: Ich bleibe nüchtern und spare mir ‘nen Kater.

Doch ich bin nicht nur geschmackstechnisch eingeschränkt, auch mein Sehnerv muss sich mit einer Blickrichtung begnügen. “Sieh dich nicht um, da hinten sitzt der Verrückte mit seinem Laptop. Sobald du Blickkontakt aufnimmst, kommt der rüber und zeigt dir seine komplette Fotosammlung. Da kommst du nicht mehr weg.” Richard, der Dauerknipser, sitzt als einziger Stammgast mit seinem Laptop in der Mitte der Bar. Er ist etwas untersetzt, trägt Kappi, Shorts und bedrucktes Shirt. Ich schätze ihn auf Ende fünfzig, wenngleich sein Gang jugendlich agil wirkt. Auch er scheint davon überzeugt, dass die Trantüte hinter der Theke nicht viel taugt, und nimmt den Service glatt mal selbst in die Hand. Wenn er nicht gerade neue Bilderordner anlegt, pirscht Richie zwischen den inzwischen eingetroffenen Gästen umher, räumt hier und da ein Gläschen weg.

Mein Engländer lädt mich auf einen weiteren Drink ein. Ich wähle meinen Lieblingssaft: Whiskey pur. Langsam lasse ich die ersten paar Tröpfchen auf meiner Zunge zergehen, da stürmt Richard heran, krallt sich mein Glas und fragt ernsthaft: “Kann das weg?” Hey, der Becher ist noch halb voll! Gut, sieht von Weitem aus wie die letzte Pfütze Apfelmost, aber das hier ist Schnaps. Den kipp ich mir nicht aus Frust hinter die Binde. “Nee, nee”, rufe ich ihm entsetzt entgegen und erobere mein Glas zurück. An diesem Abend habe ich mir wohl keine Fotoshow verdient. Fortsetzung folgt …



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