Vom Segen des Spitzelns

Vom Segen des SpitzelnsEs sind entsetzliche Grafiken, die das Faktenmagazin Focus jetzt unter der Schlagzeile "Stasi bremst Wachstum" veröffentlichen musste (oben). In Grün und Gelb und Rot findet sich ein verstecktes Loblied auf die zweite deutsche Diktatur - und harsche Kritik an den derzeit herrschenden Zuständen in der zweiten deutschen Demokratie.
Das Danrichtenmagazin aus München berichtet eigentlich über eine Studie, die erstmals enthüllt, wie sich die Überwachung durch inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit in der DDR bis heute auf die Vertrauens- und Kooperationsfähigkeit der Menschen in Ostdeutschland auswirkt. Klarer Fall: Negativ. Das Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern leide auch 20 Jahre nach der deutschen Einheit unter den Machenschaften des Mielke-Ministeriums, das habe eine Studie der Wirtschaftswissenschaftler Marcel Tyrell und Marcus Jacob bewiesen. Indirekt sei die Jahrzehnte lange Bespitzelung für bis zu sieben Prozent der Einkommensunterschiede zwischen Ost und West verantwortlich - und für fast 26 Prozent der Differenz in den Arbeitslosenzahlen, folgern die Forscher nachdem sie die Zahl der Stasi-IM in Beziehung zum Sozialverhalten und zu den Wirtschaftsdaten gesetzt haben. Frühere DDR-Bezirke, die eine deutlich überdurchschnittliche Überwachungsintensität aufgewiesen hätten, könnten heute beispielsweise eine um durchschnittlich 0,6 Prozentpunkte geringere Wahlbeteiligung, eine um zehn Prozent geringere Beteiligung am öffentlichen Leben und nur die Hälfte an Organspenden vorweisen. Diese schlechten Sozialkapitalwerte schlügen dann negativ auch auf die Bereitschaft zu sozialer und wirtschaftlicher Aktivität und damit schlussendlich auf die Wirtschaftskraft insgesamt durch.
Vom Segen des SpitzelnsDer Zusammenhang ist an den Haaren herbeigezogen, aber genauso schlüssig wie die von PPQ-Wissenschaftlern einst aufgedeckte enge Verbindung zwischen den Verkaufszahlen der immens rechtsradikalen Modekette Thor Steinar und dem Wohnungsleerstand (Grafik links). "Wer eine rechtsextreme Jacke hat, braucht keine Wohnung mehr", schlussfolgerte das Forscherteam seinerzeit schlüssig. Heute heißt es: „Das stete Bewusstsein im Gegenüber einen geheimen Informanten der Stasi vermuten zu müssen, hat in der DDR zu einem starken latenten Misstrauen gegenüber Fremden geführt“, zitiert das Magazin den Professor der Uni Friedrichshafen, einen offenkundigen Buchgelehrten des DDR-Alltags. Das wirke sich bis heute auf die Bereitschaft aus, zu vertrauen und zu kooperieren. Misstrauen, so schwört der Wissenschaftler, geboren in Trier und zum Zeitpunkt des Mauerfalls 30 Jahre alt, sei eine Art zweiter Vornamen jedes Ostdeutschen und der "Mangel an so genanntem Sozialkapital" lasse deshalb bis heute in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens nachweisen – etwa in der im Vergleich zum Westen geringeren Mitgliedschaft in Vereinen oder der niedrigeren Wahlbeteiligung.
Das eigentlich Erstaunliche aber ist die Tatsache, dass die Zahlen, mit denen die Wissenschaftler arbeiten, dieses Bild in der Übersetzung in Focus-Grafiken nicht stützen. Ganz im Gegenteil. Die Theorie, dass dort, wo wenig gespitzelt wurde, heute mehr Kooperation und Vertrauen und damit sozialer Klebstoff vorhanden sei, geht nicht auf. So hatte der ehemalige Bezirk Halle seinerzeit vergleichsweise wenige Stasi-Mitarbeiter pro Kopf der Bevölkerung, dennoch gehen in der Demokratie sowenig Menschen zur Wahl wie im ehemaligen Bezirk Schwerin, der von viel mehr Stasi-IM beobachtet wurde. Halle hat außerdem eine Arbeitslosenquote, wie sie nach Ansicht der beiden Experten ehemals schwer Stasi-durchseuchte Regionen haben sollte. Dagegen ist Schwerin, ehemals eine Paradies für Spitzel, mit weniger Arbeitslose gesegnet, während der frühere Bezirk Cottbus zwar viele Arbeitslose hat, aber als ehemalige IM-Hochburg nicht wie von den beiden Experten vorhergesagt wenig, sondern eher eifrig zur Wahl geht. Kunterbunt ist das alles ohne Grund: Suhl etwa hatte viel Stasi, hält aber heute dennoch eine niedrigere Arbeitslosenquote als Leipzig, wo es seinerzeit viel weniger Stasi-Überwachung gab.
Ist also die Tätigkeit der Stasi-Spitzel ein später Segen für den Osten? Blüht und gedeiht die Demokratie, wo früher jeder zweite Herzschlag Angst sein musste? Magdeburg etwa hatte mehr unter der Stasi zu leiden als Halle, was augenscheinlich dazu führte, dass die Arbeitslosenquote dort heute niedriger ist. Karl-Marx-Stadt, das frühere Chemnitz, hatte mehr Stasiüberwachung als Halle und geht vielleicht deshalb heute engagierter als die Hallenser zu jeder Wahl. Fakten, die allerdings weder Focus noch Forscher interessieren: „Der Mensch“, erklärt Mitforscher Jacob die Auswirkungen der Arbeit des MfS trotzig, „zieht sich zurück, er verlässt sich nur noch auf den innersten Kreis der Familie und wenige, enge Freunde, denen er glaubt, am meisten trauen zu können“.Wir sprechen zwar verschiedene Sprachen. Meinen aber etwas völlig anderes.

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