Vier Prozent mehr sind drin

Herr Brenke, wie schätzen Sie das allgemeine Lohnniveau in Deutschland Stand heute ein?

Karl Brenke: Das deutsche Lohnniveau ist im europäischen Vergleich im oberen Mittelfeld. Wobei es eine auffällig große Spreizung zwischen den hohen Löhnen in der Industrie und denen bei den Dienstleistungen gibt. In diesem Bereich schneidet Deutschland relativ schlecht ab.

Sind die Löhne gerecht?

Brenke: Um das zu beantworten, muss man die Löhne an der Produktivität messen. Wenn ich mir die Produktivitätsentwicklung ansehe, dann muss ich sagen, dass die Lohnentwicklung in der letzten Dekade problematisch war. Die Löhne sind deutlich hinter den Einkommen aus Vermögen und Unternehmertätigkeit zurückgeblieben. Darunter leidet die Inlandsnachfrage. Wir haben permanent große Überschüsse im Außenhandel, folglich wird auch Kapital exportiert. Das bedeutet, dass Geld, das durch den Überschuss in Deutschland erwirtschaftet wird, ins Ausland abfließt.

Wie kommt es, dass die Nettolöhne in zehn Jahren nicht gestiegen sind, obwohl die Produktivität zunimmt?

Brenke: Die schwache Lohnentwicklung hat eine Vielzahl von Gründen. Gewiss spielt die sektorale Veränderung eine Rolle. Wie in allen entwickelten Gesellschaften haben wir auch in Deutschland einen Trend hin zum Dienstleistungssektor. Damit einher geht ein Trend zu kleinen Betrieben, zu einer Beschäftigung, die eher vereinzelt stattfindet. In diesen kleinen Betrieben ist es schwierig, größere Lohnzuwächse durchzusetzen.

Der zweite Punkt ist auch nicht unbedingt nur ein deutsches Problem: Die Menschen wenden sich von Großorganisationen wie den Gewerkschaften ab. Dasselbe erleben auch die Parteien oder die Kirchen. Es findet hier eine Individualisierung statt, was die Position in Lohnverhandlungen schwächt. Aber das alles reicht nicht aus, um die schwache Lohnentwicklung hierzulande zu erklären, denn die genannten Tendenzen gibt es auch in anderen Ländern. Offensichtlich haben in Deutschland auch die Gewerkschaften ein Stück weit versagt.

Medien berichten oft von einem wachsenden Billiglohnsektor und immer mehr Zeit- und Leiharbeitern. Ist das Teil des Problems?

Brenke: Der Niedriglohnsektor ist zwar bis 2006 überproportional gewachsen, seitdem wächst er aber genau wie die Gesamtbeschäftigung. Das hat also in den letzten Jahren keine Rolle mehr gespielt. Bei der Leiharbeit ist es etwas anderes. Tatsächlich wird dieses Modell oft auch deshalb eingesetzt, um Lohndrückerei zu betreiben. Andererseits fallen diese Arbeitnehmer bei den Leiharbeitsfirmen nicht so sehr ins Gewicht. Es gibt bei knapp 37 Millionen Arbeitnehmern in Deutschlandweniger als eine Million Leiharbeiter. Also daran allein kann es auch nicht liegen.

Während Löhne seit Jahren stagnieren, sind die Einkünfte aus Vermögen und Finanzprodukten stark gestiegen. Entwickelt sich dadurch die Einkommensschere weiter auseinander?

Brenke: Ja, natürlich. Wir haben in den letzten Jahren durchaus ein Wirtschaftswachstum gehabt, wobei die Löhne insgesamt gesehen zurückgeblieben sind. Das Wachstum schlägt sich also in Vermögens- und Unternehmenseinkommen durch, die Arbeitnehmer sehen davon nichts.

Ist der soziale Frieden in Deutschland durch diese Entwicklung in Gefahr?

Brenke: Bisher nicht. Aber es führt natürlich nicht gerade dazu, dass soziale Spannungen abnehmen. Als Ökonom sehe ich aber ein anderes Problem: Dadurch, dass die Löhne real nicht steigen und durch die Kopplung daran auch die Renten wenig wachsen, haben wir eine schwache Binnennachfrage. Das schlägt sich nicht nur im Konsum nieder, sondern auch in den Investitionen. Warum sollte auch zum Beispiel im Einzelhandel viel investiert werden, wenn die Nachfrage ohnehin schwach ist?

Wenn man es an einem Beispiel ganz anschaulich macht: Warum sollte ein Unternehmer eine Geschäft eröffnen, wenn er weiß, dass er dort nur wenig verkaufen kann?

Brenke: Genau. Es gibt da so absurde Vorstellungen, wenn etwa der Einzelhandelsverband sagt: Wir können keine höheren Löhne zahlen. Das ist meiner Meinung nach eine sehr eingeschränkte Sichtweise. Natürlich kann er keine höheren Löhne zahlen, wenn er nur auf seine eigene Branche guckt. Aber wenn es insgesamt in Deutschland höhere Löhne gäbe, würde der Einzelhandel auch auf höhere Umsätze kommen. Und dann könnte er auch bessere Löhne zahlen.

Das klingt ganz einfach. Man zahlt höhere Löhne, dadurch haben die Menschen mehr Geld und geben auch wieder mehr aus.

Brenke: So muss es sein. Denn die Reichen, die vor allem von Vermögen leben, haben eine relativ geringe Konsumquote. Das heißt, sie geben nur einen geringen Teil ihres Einkommens aus und der Rest geht in Ersparnisse. Nicht selten sind das auch Ersparnisse, die im Ausland angelegt werden. Wenn wir jetzt eine Steigerung bei den realen Arbeitsentgelten hätten, würden normale Arbeitnehmer mehr Geld ausgeben.

Deutschland lebt momentan von Exporten. Würden die Exporte bei einer höheren Binnennachfrage eingeschränkt?

Brenke: Ich würde sagen, die Verhältnisse würden sich anpassen. Vernünftig wäre eine ausgeglichene Handelsbilanz. Also ähnlich hohe Exporte wie Importe. Deutschland lebt seit Jahren unter seinen Verhältnissen, weil es enorme Exportüberschüsse hat. Andere Länder wie Griechenland haben permanent über ihre Verhältnisse gelebt und dabei massive Defizite aufgebaut. Beides ist ungesund. Wir sollten deswegen nun gewiss nicht eine Politik fahren, die den Export einschränkt. Mir würde es ja völlig reichen, wenn wir mit derEinkommensumverteilung von unten nach oben aufhören würden. Wenn ich mir da die letzten Jahre ansehe, sind Lohnzuwächse von 3 Prozent sinnvoll. In manchen Branchen kann das sogar mehr sein, in der Industrie sind etwa 4 Prozent drin.

Die Gewerkschaften gehen mit der Forderung von 6,5 Prozent in die Verhandlungen. Arbeitgeber warnen aber davor, dass höhere Löhne Arbeitsplätze kosten würden und den Aufschwung gefährdeten. Was sagen Sie zu diesem Argument?

Brenke: Wenn man den Arbeitgebern glauben würde, würde es nie zu Lohnsteigerungen kommen. Das ist ja aus ihrer Perspektive durchaus nachvollziehbar: Wenn der Aufschwung eingesetzt hat, darf man ihn nicht gefährden, wenn es zum Abschwung kommt, kann man die Löhne erst Recht nicht anheben. Man kann nach deren Sicht eigentlich nie die Löhne anheben. Dass die Gewerkschaften erst mal sehr hoch ansetzen, um dann in den Verhandlungen auf die 3 oder 4 Prozent zu kommen, gehört zum ganz normalen Prozedere von Tarifverhandlungen.

Manche Unternehmen, wie Daimler, heben nicht grundsätzlich ihren Lohn an, sondern zahlen den Mitarbeitern Boni. Das Argument für dieses Modell ist, dass Arbeitgeber viel flexibler auf die jeweilige Marktsituation reagieren können. Was sagen Sie zu dem Modell geringer Lohn, aber große Bonuszahlungen?

Brenke: Ich halte das für falsch. Erstens orientieren sich solche Zahlungen immer am guten Willen des Arbeitgebers. Das kann nicht gut sein. Zweitens richtet man sich zu sehr an der jeweiligen Konjunktur oder sogar an Prognosen aus. Und drittens ist es konjunkturell sogar kontraproduktiv. Wenn man nur bei einer guten Konjunktur kräftig ausschüttet und bei einer schlechten Konjunktur die Löhne einschränkt, dann verstärkt man die Konjunktureffekte. Man würde also keine antizyklische, sondern eine prozyklische Lohnpolitik betreiben. Das ist Irrsinn, denn das verstärkt den Abschwung wie den Aufschwung noch. Besser wäre eine Lohnpolitik, die sich am mittelfristigen Anstieg der Preise und der Produktivität ausrichtet.

Ein Ausblick: Sie sagen, 3 Prozent wären gesamtwirtschaftlich angebracht. Was glauben Sie werden die Verhandlungen tatsächlich ergeben?

Brenke: Ich mache ja auch Konjunkturprognosen und die sind schon furchtbar schwer – man läuft immer wieder Gefahr, sich zu blamieren. Bei Tarifabschlüssen ist es noch viel schwerer. Aber ich gehe mal davon aus, dass bei der Metall- und Elektroindustrie eine vier vor dem Komma stehen wird.

Ein sattes Lohnplus ist überfällig, meint news.de-Redakteur Michael Kraft in unserem Videokommentar.

Karl Brenke ist Konjunktur- und Arbeitsmarktexperte am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

Quelle:
News -
Politik News -
Tarifrunde 2012 – Vier Prozent mehr sind drin


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