Tomas Espedal. Wider die Kunst

Knausgard lesen oder Espedal? Für mich ganz klar – ich wähle Tomas Espedal. Das hat mehrere Gründe und einer davon ist, dass ich für ein fünfbändiges Werk, in welchem es ausschließlich um Sterben, Leben, Träumen, Liebe und natürlich immerzu um den Autor selbst geht, einfach keine Geduld habe. Auch fehlt mir dazu die Zeit. Den ersten Impuls, Espedal zu lesen, gab diese Begegnung im August 2014 …

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©Mara Giese. Begegnung mit Tomas Espedal. August 2014

Es ist nämlich so, dass Wider die Kunst schon seit längerer Zeit nach mir ruft. Auf dem Sommerfest und zehnjährigem Verlagsjubiläum von Matthes & Seitz im LCB am Wannsee begegneten die Klappentexterin und ich vor zwei Jahren Tomas Espedal. Und dort hat er uns unter anderem von diesem autobiographischen Roman erzählt. 

Ganz entscheidend aber inspirierten mich die Rezensionen bei literaturleuchtet und bei Zeichen und Zeiten sowie das Interview der Klappentexterin mit Maria vom ocelot, not just another bookstore. Ich nicke Maria gedanklich zu, wenn sie im Interview sagt, Espedal ist fast lyrisch und schreibt kurze Sätze, knappe Passagen, die wie plastische Kunst vor einem stehen. Glasklar. Bei ihm steht jeder Satz für sich, den kannst du herausnehmen und bewundernd betrachten. Dabei ist er völlig ungekünstelt, sondern schlicht authentisch. Das ist großartig!

Ja! Genau so empfinde ich das auch! Auch wenn ich immer wieder Pausen machen muss, weil der Stoff so dicht und so schmerzhaft ist, weil er mich an meine Grenzen treibt … Doch ich habe Zeit. Ein entspannter stiller Sonntag. Ich lese Zeile um Zeile und Satz um Satz. Und bin im Glück.

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©Simone Finkenwirth. Klappentexterin und Maria im Gespräch über zwei große Norweger

Ich bin mittendrin in Wider die Kunst.

Ein Mann verliert in kürzester Zeit zwei Frauen. Seine Mutter und seine Frau Agnete. Dieser Mann ist der norwegische Autor Tomas Espedal. In diesem Buch geht es um ihn, es geht um seinen Schmerz. Es geht um Verlustgefühle und um das Stark-sein-müssen für die 15jährige Tochter Amalie, der er nun Vater und Mutter sein will. Wieviel Kraft braucht das? Und wie fühlt sich das an, wenn man morgens – vom Schlaf noch ganz benommen – aufwacht und nicht sofort realisiert, dass die Frau fort ist? Für immer?! Espedal findet Worte, die in ihrer Schlichtheit umso tiefer berühren:

Eines Morgens erkannte ich beim Aufwachen das Zimmer, in dem ich lag, nicht wieder; ich nahm an, ich hätte bei einem Freund übernachtet, oder vielleicht schlief ich in einem Hotelzimmer … Bald würden die Mädchen aufwachen, erst die Jüngere, dann die Ältere, dann die Mutter, stets in dieser Reihenfolge, es war noch nichts von ihnen zu hören. Sollte, müsste die Mutter nicht bald aufstehen? Erst nach einer kleinen Weile erinnerte ich mich, dass sie krank war, gestorben war (S. 24).

Einem kurzen Absatz folgt dann die Geschichte seines Großvaters Alfred Johan Olsen, Werftarbeiter in Solheimsviken. Weil das gut funktioniert, sich zu erinnern, und dabei den Schmerz auszublenden. Weil es danach leichter ist, in kurzen Passagen zurück zu kehren. In die Gegenwart, in welcher er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzt, sich anzieht. Tag für Tag.

Dann wieder im Zimmer des Großvaters, welches schon das Kind Tomas Espedal beeindruckte: … Bücher, Bücher in einem langen, eigens angefertigten Regal, das über die gesamte Querwand ging, eine Wand von Büchern in Ledereinband … bevor ich lesen konnte, begriff ich die Bedeutung von Büchern, dank dieser Wand. Es war, als würden sie, dieser Teil des Wohnzimmers, der einer Bibliothek glich, Stille ausstrahlen (S. 52).

Von dieser Leidenschaft für Bücher und für das Schreiben ist das gesamte Buch durchdrungen, man spürt das mit jedem Wort. Wenn Espedal die Tasten seiner Schreibmaschine tanzen lässt, wenn er sich neue Notizbücher und Bleistifte kauft. Und als wäre er manchmal ein Maler vor einer Staffelei, schenkt Espedal uns auch wunderschöne Momente in der Natur, welche er zutiefst liebt. Ausgestattet mit Pinsel und Palette, könnte er kaum ein intensiveres und farbenprächtigeres Bild der herbstlichen Bäume zaubern, als mit solchen Worten:

Im September schlugen die Farben des Laubs von grün zu gelb und rot um, eine Feuersbrunst in den Wipfeln, sie flammte an den Berghängen und im Wald auf (S. 64).

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Espedal lesen ist ein ganz besonderes Erlebnis. Hätte dieser Text auf mich die gleiche Wirkung gehabt, wenn ich ihn als elektronische Datei gelesen hätte? Ich möchte behaupten, nein, hätte er nicht! Mir wäre der wunderbare Duft des Buches beim Umblättern der Seiten entgangen, der aber dazu gehört, wenn einer über das Schreiben erzählt! Und mir wäre ganz sicher entgangen, dass über den Schutzumschlag viele kleine Skorpione auf blauem Grund krabbeln. Warum das so wichtig ist? Weil Espedals Geschichte damit beginnt, dass er an einem 12. November im Zeichen des Skorpion geboren ist. Ein in die Ecke getriebener Skorpion, sagt der Autor, hebe den Giftstachel und steche zu.

… ich beginne morgens oder abends zu schreiben … hebe die rechte Hand und platziere die Bleistiftspitze auf dem Papier, das Gift fließt. Ich schreibe (S. 11).

Und ich? Ich folge seiner giftigen Spur, die so klar und so schön ist. Bis zum letzten Satz –

Tomas Espedal. Wider die Kunst. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2015. 192 Seiten. 19,90 €

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