Thilos willfährige Apologeten

Von Frank Benedikt

“Unangenehme Wahrheiten …”, “Die Linke vermeidet eine notwendige Diskussion …”, “… aber er hat doch recht!” Nicht der Sozialrassist und Populist Thilo Sarrazin ist das eigentlich Entsetzliche an der momentanen Debatte, sondern die Masse der Apologeten, die seine “Argumente” unkritisch aufgreifen und ihn gegen Kritik zu verteidigen suchen.

Egal, welche Ausfälle sich Sarrazin leistet, ob er nun von “Kopftuchmädchen” oder einem Judengen schwadroniert, ob er ALG-II-Empfängern Ernährungs- und Energiespartips erteilt oder Horrorszenarien von der drohenden Verdummung Deutschlands durch Migration und Demographie entwirft – stets findet sich eine buntscheckige Posse von Claqueuren. Die Spannbreite reicht dabei von den üblichen Verdächtigen wie der NPD und pro Deutschland, über Teile der Presse wie bspw. der Spiegel und BILD, die sich nicht genierten, via Vorabdrucken für Sarrazins Buch die Werbetrommel zu rühren, bis hin zum Mann auf der Straße, dessen Vorurteile bestens bedient werden.

Erschreckend, wenn auch nicht erstaunlich, dass ein BILD-”Chefkolumnist” wie der unsägliche Franz-Josef Wagner Sarrazin bescheinigt, “die Wahrheit” zu schreiben. Erschreckender aber noch das Verhalten einiger Teilnehmer der Blogosphäre, die doch eigentlich als “aufgeklärter Raum” gilt. Da bejubeln nicht nur Politically Incorrect und seine Jünger “Pöbel-Thilos”  krude Thesen und entschuldigen damit auch seine (sozial)rassistischen Ausfälle, nein, auch manche – sonst eigentlich der Rechtslastigkeit unverdächtige – Blogautoren machen sich mit dem vormaligen Berliner Finanzsenator gemein, indem sie ihm beispielsweise zustimmen, dass es in Deutschland eben doch ein ernsthaftes Migrations- und Integrationsproblem gäbe. Das Interessante daran ist, dass selbst Thilo Sarrazin zugibt, dass ihm eigentlich die Fakten für seine Behauptungen fehlen und er sich seine Zahlen selbst fabriziert, wie Tobias Kniebe im SZ-Magazin festhält. Die derzeitige “Debatte”, wie Kniebe sie richtig mit Anführungszeichen kennzeichnet, ist nicht getragen von harten Zahlen und Fakten, sondern von Vorurteilen und Polemik. Sarrazin und seine Adepten bieten selbst keine handfesten Fakten, und auch seine Kritiker, unter denen sich Die Zeit und die NachDenkSeiten noch mit als schärfste erwiesen, verabsäumten es weitgehend, nachweisbare Zahlen in die Kontroverse einzuführen.

Um eine “Debatte” zu starten, die dieses Begriffes würdig ist, sollte zunächst einmal in zwei Punkten Einigkeit bestehen:

  1. Die demographische Entwicklung Deutschlands ist auf absehbare Zeit nicht umkehrbar
  2. Deutschland ist seit langem ein Einwanderungsland, wenn auch die Nettozuwanderung nicht ausreicht, das Abschmelzen der Bevölkerungszahl aufzufangen

Zum demographischen Wandel liegen hinreichend Studien vor, darunter die zur “Bevölkerung Deutschlands bis 2060“, die das Statistische Bundesamt zuletzt 2009 aufgelegt hat. Daraus geht hervor, dass bei der derzeitigen Entwicklung bis zum Jahr 2060 nur noch 65-70 Millionen Menschen in Deutschland leben dürften. Zudem wird diese Gesellschaft überalterter sein als die jetzige. Über die möglichen Auswirkungen streiten sich derzeit die Experten, allen voran die Statistiker Herwig Birg und Gerd Bosbach, was eigentlich nur den Schluß zuläßt, dass man nichts Genaues weiß. Aufgrund einer mangelhaften Faktenlage Entscheidungen treffen zu wollen, die massiv in das Leben zumindest der Migranten in Deutschland eingreifen, scheint unter diesem Aspekt vermessen.

Dass Deutschland inzwischen ein Einwanderungsland ist, sollte seit Mitte der 50er Jahre, als die ersten “Gastarbeiter” ins Land geholt wurden, um die boomende Wirtschaft mit Arbeitskräften zu versorgen, allen bewußt sein, wenn auch die Diskussion darüber lange weitgehend vermieden wurde. An der Tatsache, dass derzeit jährlich netto zwischen 100.000 und 200.000 Zuwanderer nach Deutschland kommen, ist nicht zu rütteln. Ebensowenig ist eine verstärkte  Abwanderung deutscher Staatsbürger (über 100.000 jährlich) von der Rechnung zu nehmen. Dies als Grundlage genommen, wäre eine Diskussion über Migration und Integration längst überfällig – nur eben auf Basis von Fakten statt populistischer Rhetorik.

Die “Fakten”, die Sarrazin und andere seines Schlages gebetsmühlenartig herunterleiern, sind keine, wie den diversen Studien u.a. zu Migration, Integration und muslimischem Leben in Deutschland durchaus zu entnehmen ist, und die der vielbeachteten und auch umstrittenen Studie des Berlin-Instituts in Teilen widersprechen. So gibt bzw. gab es bisher keine weitverbreitete Ansicht, dass ernsthafte Probleme bei der Integration vorliegen und dass etwa 70% der Bevölkerung dieser Meinung sind.  Ebenso,  dass gerade die Muslime in Deutschland hinsichtlich Bildung ausgewiesen rückständig sind. Im Gegensatz zur billigen Kolportage der Integrationsleugner, die die Eingliederung der Migranten in die deutsche Gesellschaft partout für gescheitert erklären wollen, ein paar Fakten, die durchaus für einen zunehmend besseren Integrationsprozess sprechen:

  • Nur ca. 10-15 Prozent der Deutschen und Migranten sehen eine Verschlechterung bei der Integrationspolitik, die überwiegende Mehrheit ist damit zufrieden und/oder erwartet weitere Verbesserungen (SVR-Integrationsbarometer 2010, Zusammenfassung S. 1)
  • Unter 35-jährige türkische Migranten stehen in der Bildung kaum den Italienern oder ehemaligen Jugoslawen nach (BAMF-Studie 2010, S. 244)
  • Türken sind häufiger in deutschen Vereinen oder Verbänden Mitglied als Polen, die inzwischen die drittgrößte Migrantengruppe in Deutschland stellen (BAMF-Studie 2010, S. 250) [1]
  • Das türkische Bildungsniveau wird stark durch die Zuwanderinnen der ersten Generation verzerrt, die kaum Schulbildung genossen haben
  • Die Arbeitslosenquote bei Russen und Jugoslawen liegt höher als bei Türken (INFO-Studie 2010, Presseinformation, S. 1)
  • Seit 2001 sind aus Deutschland netto über  600.000 Ausländer abgewandert bzw. wurden eingebürgert (DESTATIS, “Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Ausländische Bevölkerung“, 2008)
  • Der Einbürgerungswunsch ist gerade bei Türken und vormaligen Jugoslawen mit jeweils ca. 30% am stärksten ausgeprägt (BAMF-Studie 2010, S. 20)

Gerade in puncto Bildung existieren erkennbar noch gewisse Defizite, die aber durch ein verbessertes Angebot und nicht durch Zwang behoben werden könnten. So klagt ein türkischstämmiger Migrant der ersten Generation in der ZEIT: “Niemand hat uns einen Deutschkurs angeboten“. Ein Punkt, der zu denken geben sollte. Dass Deutschland es seinen Einwanderern wohl generell nicht leicht macht, darauf deutet auch ein Kommentar von “LMB” bei einem weiteren ZEIT-Artikel hin:

No motivation to integrate

I am an immigrant, and I must admit at this moment I have not much motivation to integrate. German society does demand a lot, but offers little in return.
(Ich bin ein Einwanderer und ich muß gestehen, dass ich gegenwärtig keine Motivation verspüre, mich zu integrieren. Die deutsche Gesellschaft verlangt eine Menge, bietet aber im Gegenzug nur wenig.)

Als Fazit läßt sich festhalten, dass es um die Integration wohl besser steht (BAMF-Studie 2010, S. 21), als es die gegenwärtige Kontroverse vermuten läßt. Zwar ist das vorliegende Zahlenmaterial elastisch, bietet aber für rassistische und sozialeugenische Ansätze, wie sie von Sarrazin und seinesgleichen populistisch intendiert sind, keinerlei Ansatz. Auch der Versuch, eine gleichsam statische Gesellschaft zu postulieren, die letztendlich nur in Inzucht enden würde, konterkariert Sarrazins sozialdarwinistische Bestrebungen. Wie die Geschichte lehrt, sind Gesellschaften niemals statisch, sondern einem steten Wandel unterworfen und eine Festschreibung eines bestimmten Status’ würde nur den Niedergang der entsprechenden Kultur beschleunigen. Als Beispiel möge nur die fortschreitende Hispanisierung der Vereinigten Staaten dienen: Zwar wird sie öfter moniert, aber der “Melting Pot” USA wird auch sie verdauen und zu einem größeren Ganzen verarbeiten. Wenn Sarrazin nun ohne jegliche Fundamentierung den Untergang des Abendlandes herbeizitiert, ist dies nur Wasser auf die Mühlen der Xenophoben und der Vorurteilsbehafteten – ein Diskussionsbeitrag oder gar “Denkanstoß” ist es aber nicht.

[1] Zu Bildung und Teilnahme an Vereinsleben u.ä. siehe auch: BAMF-Studie “Muslimisches Leben in Deutschland”, 2009

Verwendete Studien:

  • Statistisches Bundesamt (DESTATIS): “Bevölkerung Deutschlands bis 2060“, 2009
  • Statistisches Bundesamt (DESTATIS): “Ausländische Bevölkerung“, 2009
  • Berlin-Institut: “Ungenutze Potenziale“, 2009
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): “Muslimisches Leben in Deutschland“, 2009
  • Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR): “Integrationsbarometer“, 2010
  • ZFT: Mehrthemenbefragung NRW, 2009
  • INFO-Studie: “Wertewelten“, 2010
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): “Fortschritte der Integration“, 2010

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