Tabubrechende Idiotie

"Es war tabu, darüber zu reden, dass wir als Volk an durchschnittlicher Intelligenz verlieren, wenn die intelligenteren Frauen weniger oder gar keine Kinder zur Welt bringen", erklärt Thilo Sarrazin gelehrt. Er kann dergleichen ganz unbefangen von sich geben, völlig ungefährdet, dafür auch wirklich angefeindet zu werden. Was er da in die gesellschaftliche Mitte überführt, sind eugenische Positionen, die weder menschlich noch wissenschaftlich bestehen können; humangenetischer Aberwitz aus der Giftküche eines mit Halbwissen ausgerüsteten Snobs, der von Erbanlagen sicher schon mal gelesen, offensichtlich aber nicht alles davon verstanden hat.

Nicht alles zu begreifen, das wäre keine Schande. Die Humangenetik ist ein weites, ein schwieriges, verwinkeltes Feld, dem Laien oft nicht erschließbar. Deswegen gebietet es die laienhafte Bescheidenheit, mit etwaigen Erkenntnissen nicht zu tollkühn zu balancieren - das Risiko, nur die Hälfte begriffen, von dieser Hälfte wiederum die eine Hälfte zu wortwörtlich und daher zu kompromisslos aufgefasst zu haben, ist einfach zu groß. Sarrazin läßt sich nicht abhalten, er addiert das von ihm Erlesene, diesen Sud aus halbgaren Erkenntnissen, und macht daraus eine populäre Stammtischwissenschaft, die vom Scheckbuchjournalismus gefällig aufgegriffen und publiziert wird. Nichts haben sie gelernt! Denn dergleichen Halbwissen prägte auch die Dekaden vor Hitler, in der unzählige Elaborate über Zuchtwahl kursierten, in der das geistig vorbereitet wurde, was später auch körperliche, materielle Formen annehmen sollte - damals meinten viele, den Schlüssel der Genetik in Händen zu halten, die Evolution bis in den letzten Winkel hinein erklären zu können; die Wissenschaft, oft ideologisch verblendet, trug auch nicht viel zur Wahrheit bei. Erst durch dieses Klima humangenetischer Halbbildung wurden Sterilisations- und Euthanasieprogramme möglich, erst auf dieser halbwissenden Grundlage konnten Bevölkerungsschichten der Ausrottung überstellt werden.

So weit ist es mit Sarrazin freilich nicht, wenngleich er demselben Halbwissen frönt, wie jene damals. Es ist daher darauf hinzuweisen, dass er über Pfade trampelt, die schon einmal in eine Katastrophe mündeten, dass er also Gefolgsmann einer Gesinnung ist, die Not und Elend, Verstümmelung und Tod mit sich brachte. Ein Idiot eben - das ist keineswegs beleidigend gemeint, sondern im Sinne des ursprünglichen Wortes, mit Bedacht darauf, wie der antike Lateiner den Idioten, den idiota im allgemeinen Sprachgebrauch anwandte: er meint damit einen Laien, einen unwissenden Menschen; jemanden, der seine Unwissenheit, sein Halbwissen hinausposaunt; jemanden, der verblüffende Ähnlichkeit mit einem Kerl hat, der dieser Tage lärmend um die Zuchtwahl schwadroniert. Jene Zuchtwahl, die in erster Instanz eine Würfelei mit Allele darstellt, die nicht kalkulier- oder steuerbar ist - und in zweiter Instanz als eine weltfremd absolutistische "Wissenschaft" auftritt, von sich selbst überzeugt, Fähigkeiten, Ausprägungen, Interessen eines Menschen ließen sich alleine genetisch festlegen und steuern, gleichwohl die Umwelt als prägender Faktor verleugnet wird. Sarrazin erklärt auch umgehend, nachdem er über intelligenten Nachwuchs intelligenter Frauen sinnierte, dass der Einzelne selbst für sein Verhalten verantwortlich ist, nicht die Gesellschaft - darüber zu reden, sei auch tabu gewesen; aber er, Stimme der schweigenden Mehrheit, mutiger Wahrheitsverkünder, spricht nun aus, was nicht mehr tabu sein darf. Das paßt frappant zusammen, denn die Eugenik wähnt sich als absoluter Prägestempel, läßt neben sich nichts gelten. Jedoch ist die Behauptung, jeder sei selbst für sein Verhalten verantwortlich genauso unangemessen, wie das Gegenteil, wonach immer im sozio-ökonomischen Milieu die Verantwortlichkeit zu suchen sei.

Wie ist eigentlich die Existenz eines Albert Camus erklärbar? Als Halbwaise einer Mutter, die nicht schreiben, nicht lesen konnte, wurde er später Literaturnobelpreisträger, eine der wichtigsten Gestalten der modernen Philosophie - seine Mutter, nicht nur Analphabetin, sondern auch schwer von Begriff, wie einige Biographen Camus' berichten, konnte zeit ihres Lebens nicht nachvollziehen, was ihr Spross da geleistet hatte. Der Nobelpreis, soviel begriff sie noch, schien eine wichtige Sache zu sein - wie wichtig, blieb ihr schleierhaft. Überdies litt Camus' Onkel, der Bruder der Mutter, unter einer Sprechbehinderung. Und aus dieser Brut, aus diesem Pool vermeintlich minderwertiger Gene, entstammt ein Literaturnobelpreisträger? Wie soll das zusammengehen, wenn Intelligenz nur das Produkt intelligenter Erzeuger sein soll?

Und bei all diesem Gerede um Intelligenz ein kurzer Einwurf, denn es ist noch nicht einmal geklärt, was intelligent bedeuten soll. Die Intelligenz Zusammenhänge zu verstehen? Zu wissen, wo man günstig einkaufen kann? Die Intelligenz Arbeit zu haben? Oder etwa die emotionale Intelligenz, die für potenzielle Eltern nicht ganz uninteressant wäre? Intelligenz ist ein menschlicher Ausdruck, man könnte fast behaupten, ein zivilisatorischer Aspekt, der sich in einem von Naturalismus oder genauer: vom Evolutionismus geprägten Weltbild nur mühevoll einbetten läßt. Und Sarrazins humangenetischer Ausruf ist ja so ein evolutionärer Ansatz, der freilich auch nur auf Halbwissen baut - eine idiotische Annahme letztlich, wenn man nochmals den ursprünglichen Gehalt des idiota aufgreift. Die Evolution fragt nicht nach Intelligenz - sie fragt gar nicht, kann nicht fragen; aber lassen wir es der Veranschaulichung halber mal so stehen. Sie fragt nicht wie intelligent etwas ist, sie "interessiert" - auch das lassen wir vereinfachend so stehen! - sich für Überlebensstrategien - dumm zu sein, könnte man demnach mit evolutionärer Kaltschnäuzigkeit sagen, ist auch eine mögliche Strategie. Man denke nur an den braven Soldaten Schwejk, wie er sich blöde durch die Wirren des Krieges lotst, ihn überlebt, während besonders intelligente junge Männer, Akademiker und Dichter zum Beispiel, im Niemandsland zwischen den Fronten verbluteten. Anzumerken ist freilich auch, dass Dummheit ebenso ein Begriff aus der menschlichen Wahrnehmung und Bewertungsneigung ist und keinen natürlichen Anspruch erheben kann. Das vermeintlich dumme Huhn ist nur in Augen des Menschen dumm - dass dieses Geflügel noch als Spezies existiert, bedeutet nämlich vorallem, dass es sich so falsch im Laufe der Jahrtausende nicht benommen haben kann.
Wie auch immer, Sarrazin definiert nicht, was für ihn "intelligentere Frauen" sind - es bleibt vage und man kann mit etwas Phantasie annehmen - man kennt Sarrazin mittlerweile gut genug! -, dass er den Aspekt des beruflichen Erfolges mit der Intelligenz verquickt. Das wäre wieder nur eine einseitige Sichtweise, wiederum nicht besonders intelligent, aber wie gesagt, man kennt Sarrazin mittlerweile gut genug.

Doch zurück zur genetischen Vorbedingung. Natürlich beeinflussen Allele die "Zusammenstellung des Menschen", bedingen Haar- und Hautfarbe, aber auch die chemische, laienhaft ausgedrückt: die innerkörperliche Befindlichkeit, Hormonausschüttungen beispielsweise. Aber das wäre als Prägestempel unzureichend, denn der Mensch ist ein wahrnehmendes Wesen, bewegt sich in einer Umwelt, die Einflüsse auf ihn abwirft. Die durchschnittliche Volksintelligenz, um mit Sarrazin zu reden, richtet sich deshalb nicht nach dem Sexual- und Fortpflanzungsverhalten intelligenterer Menschen: sie orientiert sich viel stärker an dem, was die Umwelt zur Schaffung von Intelligenz bereithält. Eindrücke und Impressionen, die sich aufdrängen, sind maßgeblicher. Bildungsangebote, Förderverhalten, das Verhältnis einer Gesellschaft zu Wissen und Bildung generell, ob man salopp gesprochen, Bildung sexy findet - und es ist wesentlich, ob beispielsweise ein Mentor sich für einen noch formbaren jungen Menschen verantwortlich fühlt, ihn anleitet, hilft, motiviert. Die Intelligenz eines Menschen wird somit nicht im Schlafgemach gezeugt, nicht ausschließlich - sie bildet sich, formt sich im Werdegang des Heranwachsens. Auch das Kind vermeintlich kluger Eltern - das, was wir als klug erachten! - kann in Dummheit ertrinken, wenn es nicht gefördert wird. Genetisch vorgeformte Intelligenz, wenn es dergleichen überhaupt geben mag, verkümmert traurig, wenn sie nicht gefordert wird. Natürlich sind Erbanlagen nicht bedeutungslos, der Mensch ist nicht gänzlich tabula rasa - sie sind aber auch nicht derart absolutistisch, als dass sie ein ganzes Leben vorzeichnen könnten, als dass man den "intelligenten Menschen" züchten könnte.

Hätten solche, die wie Sarrazin vom "guten Geschlecht", also vom eu-genos, schwatzen, die Familie Camus' unter ihrer Fuchtel gehabt: sie hätten dem Nachwuchs als Rat in die Wiege gelegt, nicht zu weit hinaus zu wollen - es würde ja doch nur in Tränen enden, weil die geistige Kraft für mehr nicht gegeben wäre. Es handelt sich dabei nicht nur um Halbbildung, um gefährliche Tendenzen, an denen Sarrazin und einige seine Kollegen aus dem soziologischen Fach fleißig basteln - die falsche Auslegung der Humangenetik ist auch ein Unterdrückungsmittel, ein Instrument zur Kleinhaltung und zum Sozial- und Bildungsabbau. weil sie den Menschen vorab mit auf den Weg gibt, dass sich Engagement und Bildung nur wenig lohnen würde. Hier bauen jene "soziologischen" Lehren auf, die die Bildung für Unterschichten auf das Notwendige reduzieren wollen, weil sie ohnehin wenig brächte. Für was mit Textaufgaben und Aufsätzen quälen, wenn denen die Dummheit doch eh im Blut liegt? Ein negatives Menschenbild avanciert in die gesellschaftliche Mitte, ein Menschenbild, in dem der Mensch ein vorgezeichnetes Schicksal erhält, kafkaesk in seiner Bestimmung gefangen ist.

Letztlich muß man Sarrazin allerdings beipflichten: Deutschland wird immer dümmer! Denn es ist unbestritten: je mehr solcher Halbwahrheiten, solcher Idiotien publiziert werden, desto mehr Dummheit macht sich breit. Und es ist zu befürchten, dass mehr solcher "Erkenntnisse" veröffentlicht werden in den nächsten Jahren - der Schoß feuchtet sehr zurzeit. Denn wie schreibt Sarrazin: "Es war tabu..." - leider ist es nicht mehr tabu; er ist nun ausreichend mutig, durch den öffentlichen und journalistischen Zuspruch der letzten Jahre, dass er ganz siegessicher den Tabubrecher geben darf. Und Deutschland wird dümmer, weil solche Aussagen nicht mehr tabu sind, weil der Laie, der halbgebildete Mensch, der Idiot ein Forum erhält.


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