stuttgart als geistige lebensform

auch die faz beschäftigte sich gestern gut recherchiert mit den jüngsten ereignissen in stuttgart:

Bürgerprotest
Stuttgart als geistige Lebensform
Völker der Welt, schaut auf diese Stadt – aber bringt eure Badehosen mit! Und wer nur Bahnhof, noch dazu Bahnhof 21 versteht, hat nichts verstanden. Hier sprudelt der Protest an den Mineralquellen des Bürgertums.

Von Gerhard Stadelmaier
28. August 2010

stuttgart als geistige lebensform ***Die heilige Quelle Stuttgarts: Die Kaltbadehalle des Mineralbades Leuze im morgendlichen 6-Uhr-Glanz, wenn die Bürger Pathos tanken***

Sechs Uhr morgens. Es gibt keine bessere Zeit. Wenn die Stadt noch schläft, die Straßen noch leer sind, der Bahnhof, um dessen oberirdischen Erhalt oder dessen schnöde Verlegung ins Unterirdische seit Monaten ein Kampf tobt, noch kaum von einfahrenden Vorortzügen und S-Bahnen und deren sich verlaufender morgenmüder Menschenfracht belebt ist. Dann muss man zur Quelle gehen.

Vor deren Eingang drängen sich um diese Uhrzeit schon zwei bis drei Dutzend Menschen. Sie warten auf den Einlass ins Mineralbad Leuze, will sagen: auf den Zugang zum einzig würdigen Ort dieses Etablissements, zur Kaltbadehalle. Dass das Leuze jüngst einen Vier-Sterne-Wellness-Orden für irgendwelchen zusätzlichen Warmbade-Firlefanz erhielt, dass dort unaufhörlich an einer Aufblasung zum „Erlebnisbad“ gebastelt wird und man sogar an den Dachaufbau in Form einer „Winzer-Sauna“ denkt („Im Trollinger schwitzen!“) samt etwas intelligenzbeleidigend angepriesenen Fernblicken in die Weinberge rund um Stuttgart – das kümmert die Sechs-Uhr-Leute nicht.

stuttgart als geistige lebensform ***So reinigt sich die Lust vom Schmerz: Abgang zum Kaltwasserbecken (20 Grad), in das man erst steigt, wenn man sich unter der Heißdusche auf weit über 40 Grad erhitzt hat***

Viele von ihnen kommen seit Jahrzehnten hierher. Um sechs Uhr früh. Täglich. Noch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts konnte man Kriegsversehrte am Beckenrand ihre Liegestützen machen sehen, notfalls mit Hilfe von Krücken. Es gibt verlässliche, einschlägige Erzählungen aus alten Zeiten, dass aus der Gefangenschaft heimgekehrte Soldaten zuerst ins Leuze kalt baden statt zur Mama warm essen gegangen sind. Denn diese Quelle ist heilig.

Nirgendwo sonst auf der Welt käme man auf die Idee, so massenhaft so früh sich täglich über Jahre hinweg erst unter brühend heißem Duschgebraus in einen krebsrot glühenden Feuerball aus Haut und Haaren zu verwandeln, nicht ohne sich vorher gründlich gereinigt zu haben – und dann in ein zwanzig Grad kaltes, wie Champagner sprudelndes Wasser zu tauchen, streng gegen den Uhrzeigersinn im gar nicht großen Becken fünf Minuten langsam zu schwimmen, bis der Kälteschock einer prickelnden Wärmewonne gewichen ist. Man kann den Blick durch die Glasfront über den knapp am Bad vorbeifließenden Neckar hinauf zur Grabkapelle auf dem Württemberg oder hinüber zur Berger Kirche schweifen lassen. Dann wieder unter die heiße Dusche. Dann wieder ins Wasser. Dreimal aufheizen bis zur Schmerzgrenze. Dreimal kaltschocken bis zur Lustgrenze. Dann hinaus in die Stadt. Schaffen. Und dulden.

Es fällt an diesem Morgen kurz nach sechs Uhr in der Kaltbadehalle des Leuze ein tragischer Satz, der hier eigentlich nie fallen dürfte: „Mir zählet nex!“ (übersetzt: Wir sind nichts wert.). Vormals wäre dieser Satz nur in seiner Umkehrung hier denkbar gewesen: „Mir send’s doch!“ (übersetzt: Auf uns kommt es an.). Denn natürlich baden hier nicht Sektierer oder Spinner oder Angehörige obskurer politischer Gruppen. Es sind Bürger, die ihre Stadt tragen und unterhalten, sie aber nur aushalten, wenn sie die Reinigung der Lust vom Schmerz hinter sich haben. Das, was ihr dramatischer Landsmann Schiller das Pathetisch-Erhabene nannte, der es sich als eine Art geistiger Imprägnierung gegen jegliche Art vorstellbaren Schreckens und Leidens dachte, als mentales Training, das ein Menschenmögliches schon mal durchspielt, um dagegen gewappnet zu sein (der Mann war viel praktischer, als die Idealisten vermuten), das haben die Sechs-Uhr-Leuzianer als bürgerlich-dramatische Lebensform sozusagen kathartisch schon immer praktiziert. Danach kann ihnen wenig mehr passieren.

Aber jetzt scheint es doch passiert zu sein: „Mir zählet nex!“ Bisher hatten sie den unaufhörlichen Umbau ihrer nachkriegsgrauen, durch widernatürliche Schneisen und Betonklötze verschandelten Stadt hingenommen. Hatten über das tägliche Aufreißen neuer Baustellen hinweggesehen. Hatten das Herunterkommen ihrer einstmals schönen Königsstraße zu einer gesichtslos grellen Einkaufsmeile, die genauso gut in Hannover oder in Düsseldorf-Rauxel-Pforzheim rasend vor sich hin kommerzeln könnte, akzeptiert. Hatten das Verschwinden dessen an Geschäften und generationenlangen Traditionen von Handel und Wandel, womit sie einst ihr Gemeinwesen halbwegs identifizieren konnten, ertragen. Hatten eine „Passage“ nach der anderen erlebt, für die bestehende Häuser wahllos ab- oder durchbrochen wurden. Waren allen Moden und Marotten des örtlichen Staatsschauspiels (samt Leberkäs-Orgien im Regisseurstheater), allem vibratolosen Schrillklang ihres Radiosinfonieorchesters (das sich perverserweise mit einem „Stuttgart Sound“ brüstet) gefolgt. Bisher, wie gesagt. Weil sie geborgen waren in ihrer weitgespannten, da kaltwassergestählten kathartischen Gut- und Großherzigkeit. Weil sie erhaben pathetisch darauf zählen konnten, dass ihrer geistigen Lebensform einer duldsamen, wiewohl wachen und kritischen Bürgerlichkeit nicht zugemutet würde, dass ihr der Boden völlig unter den Füßen weggezogen würde. Und: dass ihre heiligste Quelle nicht bedroht wäre.

Die Mineralquellen geraten in akute Gefahr

Denn dafür, dass offenbar der Vorstand der Deutschen Bahn, der Stuttgarter Oberbürgermeister und der ländliche Ministerpräsident für – bis jetzt, es werden täglich mehr – rund sieben Milliarden Euro den wunderbaren Stuttgarter Kopfbahnhof unter die Erde verlegen und zu einem Durchgangsbahnhof machen wollen, um zwanzig Minuten schneller nach Ulm zu kommen (wobei man um jede zwanzig Minuten froh sein müsste, in denen man noch nicht nach Ulm kommt) und um schneller in Bukarest zu sein (wobei sich außer der rumänischen Mafia wahrscheinlich niemand für Schnellzugfluchtverbindungen nach Bukarest interessiert), dafür also, dass hier eines der dümmsten, gedankenlosesten und sinnlosesten Vorhaben der letzten Jahrzehnte aus Steuergeldern auf Schienen gesetzt wird, die ein ausführliches System von Tunneln unterm Stuttgarter Talkessel benötigen, in denen laut einem geheim gehaltenen Gutachten mehr Züge stecken bleiben als vorankommen werden, dafür geraten die Mineralquellen in akute Gefahr.

Abgesehen davon, dass das in und um Stuttgart herum reichlich vorkommende Anhydrit im Boden, käme es mit dem Grundwasser in Verbindung, das der Tunnelbau ihm zuführte, den Boden aufquellen lassen und ganze Stuttgarter Hänge ins Rutschen bringen würde, bestünde laut einem Planfeststellungsbeschluss des Eisenbahnbundesamtes die Gefahr, dass „die Nutzung der Heil- und Mineralquellen . . . durch schadstoffhaltige Baustoffe und verunreinigte Infiltrationswässer qualitativ beeinträchtigt“ werden könnte. Wozu es vorgeschalteter Reinigungsanlagen bedürfte, „an die die höchsten Anforderungen zu stellen“ wären, „die teilweise sogar über den derzeitigen Stand der Technik hinausgehen“. Die es also noch gar nicht gibt. Nicht einmal mehr kaltbademäßig abhärten dürften sie sich dann noch gegen die Zumutungen der von oben diktierten Veränderung.
Gegen den Willen der Mehrzahl der Bevölkerung

„Mir zählet nex!“ Weshalb sie jetzt doch zählen wollen und die täglichen Sechs-Uhr-Morgen-Leuze-Bader montags um sechs Uhr abends mit zehntausend anderen Bürgern am Bahnhof stehen und gegen „Stuttgart 21“ protestieren. Nun schon zum vierzigsten Mal. Es sind keine Spinner. Kein schwarzer Block. Keine Ausgeflippten. Es sind freie Bürger. Die sich plötzlich den massenhaften Protest als bürgerliche Lebensform ausgeguckt haben. Ruhig, heiter trotz aller Wut. Rechtsanwälte, Beamte, Handwerker, Wirte, Lehrer, Pfarrer, Apotheker, Geschäftsleute, Unternehmer, Freiberufler, Ärzte, Schauspieler, Bauern, Winzer. Aus dem Neckartal. Aus dem Remstal. Von der Ostalb herunter.

Sie lassen sich von den Demonstrationsordnern geduldig auffordern, die Autos vom nahen Parkplatz durchzulassen. Sie quittieren es mit Gelächter, wenn die Veranstalter darauf verweisen, dass jetzt gerade auch auf dem New Yorker Times Square, auf dem Berliner Alexanderplatz (der Stadt mit den meisten Schwaben außerhalb von Württemberg) und in Straßburg, Stuttgarts Partnerstadt, sogenannte „Schwabenstreiche“ stattfänden, spontane Aktionen, bei denen mit irgendwas Lärm gemacht wird (mit Vuvuzelas oder mit Kochtöpfen), um auf das Stuttgarter Problem weltweit protestierend aufmerksam zu machen, dass dort gegen den Willen der Mehrzahl der Bevölkerung Politik, Bahn und Stadt die Zerstörung einer ganzen Region planten. Im Namen eines technischen Fortschritts, von dem nur eines gewiss ist: dass er Unsummen kostet.
Charme und Witz des eigentlich Unmöglichen

„Ond des soll i zahla?“ (ergänze: mit meinen Steuergeldern) empört sich ein Herr, den man, weißbärtig und trollingernasig in jeder bürgerlich behäbigen Weinstube antreffen könnte. Es ist eine neue, dynamische, ganz grundsätzliche Konstellation: Bürger gegen Politiker, die sich immer als bürgerlich betrachtet hatten, Rebellen aus demselben Milieu. Ein Paradigmenwechsel. Es hat etwas vom Charme und vom Witz des eigentlich Unmöglichen – einer Utopie penetranter Friedfertigkeit.

Der Protest samt Baumwache und Sitzblockade kommt mitten in der Gesellschaft, bei den braven Bürgern an. Das einzig Schrille an ihnen sind ihre Trillerpfeifen. Dass ein paar Tage später, als die Bagger anrücken und ohne Vorwarnung mit dem Abriss des Nordflügels des grandios wuchtigen Bahnhofs beginnen, friedlose, also unbürgerliche Chaoten Bierflaschen nach Polizisten werfen, aufs Bahnhofsdach klettern, Gleise blockieren, Schnellzüge entern, dort die Notbremsen ziehen, zentrale Kreuzungen mit Mülltonnen blockieren, worauf in halb Stuttgart der Verkehr zum Erliegen kommt – das macht die schöne praktische Utopie bürgerlichen Protests nicht überflüssig. Steigert sie noch in ihrem Wert. Je deutlicher diese sich von aller Gewalt abhebt: im Geist des duldsamen Pathos, das aus dem Sprudelwasser kommt.

„Machtmissbrauch“ und „Wortbruch“

Am Bauzaun vorm inzwischen niedergerissenen Nordflügel des denkmalgeschützten Bonatz-Bahnhofs hängen Plakate, die sich (auch) an die Gottesmutter wenden: „O Maria hilf!“, angesichts des wüst zusammengebaggerten Steinhaufens aber eines der letzten Worte des Erlösers am Kreuz ins Sarkastische drehen: „Herr, vergebe ihnen nicht, denn sie wissen, was sie tun“, sich freilich auch ins Kabarettpointillistische versteigen: „Was nützt ein Rückgrat, wenn kein Hirn darüber ist.“ Alles gegen den Stuttgarter Oberbürgermeister gerichtet.

Die Rebellen aus dem bürgerlichen Bade-Milieu hören sich am Montag, bevor die Chaoten anrücken, eine Rede des Tübinger Oberbürgermeisters Palmer (Grüne) an, der ihnen jegliches parteipolitische und wahltaktische Argument aus den Händen schlägt, indem er erklärt, dass es Blödsinn wäre, auf die Landtagswahl als einer Denkzettelwahl zu warten, denn CDU und SPD, beide „Stuttgart 21“-Befürwortungsparteien, würden lieber miteinander koalieren, als mit den „Stuttgart 21“-Gegnern (den Grünen) zusammenzugehen. Es hülfe nur, wenn die Stuttgarter und die Menschen, die aus ganz Baden-Württemberg hierher zur Demonstration aufgebrochen seien, so zahlreich würden („wenn wir zweihunderttausend werden, die halbe Stadt, aber bitte absolut gewaltfrei!“), dass der Volkswille sozusagen die Politiker abstrafe, die wie der Stuttgarter OB sich des „Machtmissbrauchs“ und des „Wortbruchs“ schuldig gemacht hätten: Der Stuttgarter Stadtobere Schuster habe ihm, Palmer, versprochen, dafür, dass er, Palmer, seine Wähler auffordere, für Schusters Wiederwahl zu stimmen, einem Bürgerbegehren in Sachen „Stuttgart 21“ zuzustimmen, aber als dieses gerade lief, schon die Unterschrift unter die Verträge mit der Bahn geleistet. Was der Bürgerchor am Bahnhof mit „Lügenpack! Lügenpack!“ skandierend kommentiert.
Eine Menschenkette um den Landtag

Während es zu regnen anfängt auf dieser vierzigsten Demonstration gegen den Bahnhofumbau, kommt es zu einer wundersamen Koinzidenz des nassen Himmels und des nassen Elements, in dem Stuttgart als geistige Lebensform gründet: Der Redner fordert die Protestierenden auf, bei der einundvierzigsten Demonstration bitte Badehosen mitzubringen. „Wir gehen dann anschließend alle ins Leuze! ,Stuttgart 21‘ geht baden!“, höhnt er.

Bis dahin werden sie ohnmächtig zugeschaut haben, wie die Polizei sieben Dachbesetzer vom Hauptbahnhof herunter schaffte, werden womöglich eine Menschenkette um den Landtag herum gebildet haben. Übermorgen aber werden sie das Leuze feiern. Kann gut sein, dass da zu viele potentielle Warmbader dabei sind. Die Sechs-Uhr-Kaltbader aber wird es nicht stören. So lange ihre heilige Quelle rein bleibt.

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: Joachim E. Roettgers GRAFFITI



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