Straße ins Nichts

Eine Straße. Keine neue Straße, keine alte Straße, einfach nur eine Straße. Die fahre ich entlang. Ich sitze im Auto, denke mir nichts weiter dabei, und fahre so vor mich hin. Habe meine Lieblingsmusik eingelegt, fahre konzentriert, aber gleichzeitig entspannt.
Ich bin diese Straße schon oft entlang gefahren; sie ist der direkte Weg von A nach B, ist mir seit Jahren vertraut.
Man könnte fast meinen, ich könne sie blind fahren. Ich kenne jede Kurve, jeden Baum am Straßenrand, jeden Hubbel, erkenne Veränderungen sofort. Eine mir gut bekannte Straße eben. Über die man nicht lange nachdenkt, die einfach … existent ist.

Ich fahre sie weiter entlang – es geht ein Stück bergauf – und plötzlich … falle ich.

Da ist keine Straße mehr unter meinen Rädern, kein Asphalt mehr. Stattdessen ein gähnender Abgrund.
Mein Herz schlägt bis zum Hals, Schock vernebelt meine Sinne, ich bin gelähmt vor Angst. Was sollte ich auch tun? Da ist nichts, was ich tun könnte, gar nichts!

Das Auto fällt und fällt und ich sitze darin. Hilflos, unfähig, etwas zu machen. Ich bin angeschnallt, ja. Aber wird mir das etwas nützen? Oder der Airbag?
Ja, es nützt mir was, Beides, denn ich überlebe.
Ich kann sogar allein aussteigen, stehe da. Betrachte den Trümmerhaufen, der einmal mein Auto gewesen ist.
Schau hoch und kann einfach nicht verstehen, was mit der Straße passiert ist. Weg, einfach so.

Das Ganze ist jetzt schon viele Jahre her. Und ja, ich habe es geschafft, den Schock zu überwinden und fahre wieder Auto.
Aber kaum geht es ein Stück bergauf, bekomme ich wieder Angst. Angst, was hinter der Steigung ist. Denn theoretisch kann die Straße auch dort wieder weggerissen worden sein, wodurch auch immer.
Ich weiß jetzt, dass ich mich nicht darauf verlassen kann, gewarnt zu werden. Ja, oft stellen Mitmenschen Schilder auf, die einem mitteilen: “Fahr da nicht her”
Aber kann ich mich wirklich auf die Warnungen anderer verlassen?
Was, wenn es wieder passiert? Ich denke, ich WEISS, dass ich dieses Mal nicht so viel Glück haben werde.
Natürlich schnalle ich mich weiterhin an und habe den besten Airbag der Welt. Aber irgendwann sind die Kräfte so groß, dass auch das nichts mehr nützt.
Dann werde ich zerstört werden.

Es gibt den noch immer diskutierten Begriff des “Urvertrauens”. Gemeint ist damit, dass man Vertrauen in sich, in andere und in das Leben an sich hat. Dieses Urvertrauen baut sich – je nach Forschung – in den ersten Lebensjahren auf. Oder eben nicht.

Was aber, wenn man dieses Urvertrauen hat, es aber im Laufe des Lebens verliert?
Wenn man eben nicht mehr an sich selbst glauben kann? Anderen nur noch bedingt vertraut und dem Leben schonmal gar nicht?

Dann mag man sich auch weiterhin zwingen, Auto zu fahren. Weil es jeder tut. Weil es normal ist, weil man muss.
Aber das ändert nichts daran, dass man vor jeder leichten Steigung Angst hat. Dass man nichtmal Eis oder Schnee oder Sturm braucht, um sich unsicher zu fühlen.
Dass man sich einfach nur hilflos und ausgeliefert fühlt und nicht weiß, ob da hinten noch eine Straße ist, auf der man fahren kann.
Oder ob da nicht wieder ein Abgrund lauert.

“Normale” Menschen denken über so etwas gar nicht nach. Die vertrauen so dermaßen darauf, dass die Straße weitergeht, dass sie nicht einmal bewusst darüber nachdenken.
Manchmal möchte ich sie schütteln und anschreien, manchmal neide ich inen ihre Unwissenheit …

Manche Menschen sorgen sich ab und zu. Schütteln die bösen Gedanken dann ab und fahren fröhlich weiter.
Oder denken sich: “Das passiert schonmal, schlimm, aber so ist das Leben. Denk doch einfach daran, dass Du überlebt hast!”

Bei manchen Menschen wiederum ist die Angst so groß geworden, dass sie sich nie wieder in ein Auto trauen, nicht einmal als Beifahrer …

Und ich? Ich steige nach wie vor ins Auto. Und fast jedes Mal ist es eine verdammte Überwindung. Jeder, der so etwas schon erlebt hat, weiß, wie sch**ße und klein man sich vorkommt, wie deprimierend es ist, wenn einen die einfachsten Dinge des Lebens vor schier unüberwindbare Hürden stellen.
Wenn einem de Angstschweiß ausbricht, wo andere nur lachen und … ja, einfach machen.

Ich sitze im Auto und umklammere mit schweissnassen Händen das Lenkrad. Die Straße liegt offen und ruhig vor mir.
Mein Beifahrer lacht und macht Scherze.
Hinten im Auto sitzen die Kinder.

Vertraue ich auf mich?
Vertraue ich auf andere?
Vertraue ich auf das Leben?

Ich kenne die Antworten auf diese Fragen nur zu gut. Denn seit jenem Tag trage ich den Abgrund in meinem Herzen.
Trotzdem fahre ich los.


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