Schleppe mich um zwei Uhr morgens mit schwachen Beinen durch die Wohnung und trage das weinende Töchterlein schaukelnd auf dem Arm. Nehme mir vor, gleich morgen früh einen Kinderpsychologen zu kontaktieren. Möchte meine Vermutung diagnostisch bestätigen lassen, dass das arme Kind an einer biorhythmisch und tageszeitbedingten Persönlichkeitsspaltung leidet.
Tagsüber ist das Kind ein Musterexemplar eines absoluten Bilderbuch-Babys, wie es allenfalls in der Werbung von Windelherstellern und Babybrei-Produzenten anzutreffen ist. Die meiste Zeit verbringt es mit seligem Schlummern und in den seltenen Fällen, in denen es zu einem akustisch kaum wahrnehmbaren zarten Klagen ansetzt, lässt es sich im Nu durch Stillen beruhigen. Auch das Wickeln lässt das gute Kind klaglos über sich ergehen und stört sich nicht einmal an den väterlichen grobmotorischen Unzulänglichkeiten beim Windelwechseln. Bekomme sogar regelmäßig zur Mittagszeit die Möglichkeit, selbst ein kleines Nickerchen zu tätigen, wobei das Töchterlein friedlich auf meinem Bauch schläft. Momente der transzendenten geistigen und körperlichen Vereinigung von Tochter und Vater, die lediglich durch den Ruf der Natur zerstört wird, wenn die volle väterliche Blase geleert werden will.
Das tadellose Benehmen am Tage scheint allerdings nur eine Taktik zu sein, um die Eltern in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Nachts durchläuft das gleiche liebreizende Kind nämlich eine Metamorphose in ein unleidliches Wesen mit noch schlechterer Laune als Bernd das Brot. Die quengelnde Nachtkreatur hat nur ein minimales Schlafbedürfnis, welches allenfalls auf den elterlichen Armen befriedigt werden will, und all sein Tun scheint darauf ausgerichtet zu sein, die Eltern durch Schlafentzug zu zermürben.
Befürchte, das Töchterlein könnte an einer nur nachts auftretenden Gitterbettchen-Allergie leiden. Wenn wir uns nur ansatzweise in die Richtung des Bettchens bewegen, fängt sie sofort an, unruhig zu zucken. Sobald ihr Köpfchen das Bettchen auch nur für den Bruchteil einer Sekunde berührt, reißt sie die Augen weit auf und bricht in ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus, welches ein Konzert von Manowar, der angeblich lautesten Heavy-Metall-Band der Welt, wie zarte tibetanische Gesänge buddhistischer Mönche erscheinen lässt. Frage mich derweil, welcher Kretin die absurde Theorie aufgestellt hat, ein Kind müsse ab und an schreien, damit sich seine Lungen gut entwickeln können. Bin eher der Meinung, ausreichender Schlaf im Säugling-Alter ist die Grundlage für eine gute körperliche Konstitution – zumindest der Eltern.
Auch nächtliches Stillen ruft bei dem Kinde keine Ermüdungserscheinungen hervor. Vielmehr hat es eine stärkende Wirkung auf die Tochter und sie verlangt danach noch lautstärker, durch die Wohnung getragen zu werden, um diese zu inspizieren. Habe dem Töchterlein im Wohnzimmer schon mehrmals die Buchrücken im Bücherregal vorgelesen, in der naiven Hoffnung, sie durch sonoren Sprechgesang in den Schlaf zu bringen. Komme aber immer nur bis J wie „Jedes Kind kann schlafen lernen“, bevor ich ob des mich verhöhnenden Buchtitels einen cholerischen Tobsuchtsanfall wie John McEnroe zu seinen besten Zeiten bekomme, wenn der Schiedsrichter es unvorsichtigerweise wagte, einen seiner Bälle im Aus zu sehen.
Stimme, nachdem ich mental mehrere Tennisschläger am Boden zertrümmert habe, mit rauer Stimme Schlaflieder an, um die Müdigkeit der Tochter herbeizusingen. Stelle ernüchtert fest, dass mein Schlaflied-Repertoire äußerst begrenzt ist und sich auf „Schlaf, Kindchen schlaf“ und eine halbe Strophe von „Der Mond ist aufgegangen“ beschränkt. Mein eklatanter Mangel an Musikalität führt außerdem zu einer an die 12-Ton-Musik von Arnold Schönberg angelehnte Interpretation der beiden Lieder, was den unerwünschten Effekt hat, dass das Töchterlein mitleiderregen zu wimmern beginnt wie ein von seiner Robbenmutter verlassener Heuler. Breche das Schlaflied-Experiment wieder ab.
Starte nun den Versuch, das gute Kind in der Kinderwagentragetasche in den Schlaf zu schaukeln. Ein Vorhaben, das nur in der Theorie besticht und in der Praxis von keinerlei Erfolg gekrönt wird. Während die Tochter fröhlich in der Tasche juchzt, fängt mein Arm nach kurzer Zeit an zu schmerzen. Muss nach kurzer Zeit aufgrund von Erschöpfung die Schaukelei beenden, was die Zufriedenheit des Kindes mit der Gesamtsituation rapide vermindert. Schließe das zumindest aus ihrem ohrenbetäubenden Gebrüll.
Gehe mit dem schreienden Kind ins Schlafzimmer, damit die Freundin auch etwas davon hat. Halte drei Uhr morgens für einen günstigen Zeitpunkt, ihr auseinanderzusetzen, dass das nächtliche Herumtragen des Säuglings in unserer durch Gleichberechtigung charakterisierten Partnerschaft mitnichten gerecht verteilt sei. Ich würde mir den Großteil der Nacht um die Ohren schlagen, um ihre Tochter Schlaflieder singend durch die Wohnung zu tragen, und sie sei lediglich für einige wenige Minuten bereit, diese verantwortungsvolle Aufgabe auch einmal zu übernehmen. Ahne aufgrund des höhnischen Gelächters der Freundin, dass es diesbezüglich gewisse Wahrnehmungsdiskrepanzen zu geben scheint. Sie rechnet mir vor, dass ich mich seit exakt sechs Minuten um das Baby kümmere, und vorher mehr als anderthalb Stunden – anscheinend wenig glaubwürdig – einen tiefen Schlaf vorgetäuscht hätte, während sie sich bemüht habe, den weinenden Säugling zu beruhigen.
Versuche es daraufhin mit dem leicht patriarchalischen Argument, dass ein Kind im Säuglingsalter nun mal hormonell bedingt natürlicherweise eine stärkere Bindung zu der Mutter habe und sich eher von dieser beruhigen lasse. Gerate damit aber bei meiner in geschlechterkonstruktivistischen Theorien geschulten Freundin an die Falsche. Sie wirft ein, dieser biologistische Unsinn sei von Männern in die Welt gesetzt worden, die sich vor ihren väterlichen Pflichten drücken wollten. Bezug nehmend auf neue Forschungsergebnisse gibt sie dann einen kurzen Abriss über den aktuellen Stand der feministischen Debatte zum Thema soziales Geschlecht sowie über ethnologische Feldstudien zu Varianten der Familienorganisation in unterschiedlichen Gesellschaftsformen. In Ermangelung eines besseren Argumentes vertrete ich daraufhin einen Standpunkt, mit dem ich mich mit guten Erfolgsaussichten als familienpolitischer Sprecher der CSU qualifizieren könnte, und schleudere ihr entgegen, dass es ja sein könnte, dass es bei irgendeinem afrikanischen Naturvolk ein soziales Geschlecht für ältere kinderlose Frauen gäbe, die sich um die Brut der gesamten Sippschaft kümmern, aber dies würde nichts daran ändern, dass nun mal die Frauen die Kinder austragen.
Die Freundin überlegt wahrscheinlich gerade, ob das Leben als alleinerziehende Mutter dem Zusammenleben mit einem Partner, dessen Werte- und Moralvorstellungen selbst in der Adenauer-Zeit als rückständig gegolten hätten, vorzuziehen ist, als wir von einer unerwarteten Stille überrascht werden. Scheinbar hat unser Diskurs auf höchstem intellektuellem Niveau eine sedierende Wirkung auf unser Töchterlein, das friedlich schlummert. Erinnert mich stark an die Theorie-Seminare meines Soziologie-Studiums. Beschließen daraufhin, morgen Abend die erziehungssoziologischen Theoreme Emile Durkheims zu erörtern. Dies sollte die Tochter in kürzester Zeit in den Schlaf bringen.