Scarlet. Kinder der Revolution - ein V for Vendetta v.2.0?

Scarlet. Kinder der Revolution - ein V for Vendetta v.2.0?
Korrupte Cops, Schmiergelder, Schweigekartelle, Drogeneinnahmen, fingierte Pressemeldungen, Polizeibrutalität, gandenloser Einsatz von Zwangsmitteln, Machtmissbrauch, Ohnmacht, Wut und Selbstherrlichkeit. Die Zutaten unserer Welt. Oder?
Egal, wann man sich den Nachrichten widmet, es ist unübersehbar geworden, dass sich auch in den demokratischen Gesellschaften gewaltbejahende Seilschaften zwischen der offiziellen Macht und dem organisierten Verbrechen fest etabliert haben. Es ist kein Stoff mehr aus verschwörungsverschurbelten Actionkrachern - leider auch keiner der Dienstaufsichtsgremien - sondern einfach ein bedauernswerter Fakt. Zu lukrativ die Dividenden, zu verlockend der Zuwachs an Macht. Schattenwirtschaft, Korruption, fingierte Alibis - all diese Nachtschattengewächse wuchern.
Bendis hat sich in seinem neusten Werk einem kontroversen Thema gewidmet, er stellt offensiv die Frage nach dem Grund unseres Schweigens, unserer Langmütigkeit - warum schreien wir nicht jeden Tag gegen das Unrecht an, trotz aller Gefahren für Leib & Leben? Warum machen wir nicht jeden Tag lautstark klar, dass uns eine weniger durchherrschte Welt deutlich besser gefallen würde?
Die Fragestellerin ist aber keine interessierte Soziologin mit Netbook und Statistikpool, sondern eine bis an die Zähne bewaffnete, übellaunige rothaarige Dame und ehemalige Komapatientin. Der aufgesetzte Schuss aus der Pistole eines korrupten Cops tötete sie nicht, anders als ihren Freund. Nach dem Erwachen findet sie sich wieder in einer Welt, die ihr eine Mitschuld an seinem Tod zuschreibt, ihn als Pusher diffamiert und den Täter freispricht und befördert.
Bendis postiert das zornige Last Girl am Beginn der Geschichte, der Rachefeldzug ist nicht mehr zu stoppen, die Deskalation nicht mehr zu verhindert, maximal noch zu mindern. Was an dem Titel so eindruckvoll ist, ist dass sich Bendis nicht auf die ferne Zukunft ausrichtet, nicht einmal auf die nahe - Scarlet ist keine Dystopie, die eintreten könnte, das Szenario ist längst eingetreten. 
Der massive und gehäufte Einsatz von Schlagstöcken, Tränengas, Gummigeschossen scheint inzwischen vollkommen akzeptiert zu sein, ebenso wie Verhaftungswellen, Überwachungsirrsinn, menschenrechtsspottende Verhörpraxen und verdachtsunabhängige Ermittlungen en masse. Bis hierher liefs noch ganz gut ... wir stehen alle am Ende der Trailers und warten auf die Landung.
Scarlet wird in den USA bereits als der mögliche Nachfolger des Genreklassikers V for Vendetta gehandelt und ich kann in diesen Lobesgesang eigentlich nur einstimmem, zumindest nach dem ersten Band, das Narrativ ist klug, kritisch, kontrovers, konsequent UND regt aller offensichtlichen Ausstellung der Waffengewalt zum Trotz zum Nachdenken über Gewalt an.
Ich habe selten eine bissigere und rotzigere Auseinandersetzung mit Machtmissbrauch gelesen als diesen Comic. Ich hoffe nur, dass die hochaffirmative Mackerinszenierung des Last Girl in den Folgebänden sich diese Gebrochenheit bewahrt, sonst könnte diese brillante Idee recht fix ein Fall für die Wasserspülung sein.
Erzähltechnisch hochinteressant ist auch die Einführung der Figur. Scarlet begegnet uns auf der ersten Seite, einer Splashpage während eines Mordes - und spricht dann dem Leser diurch die vierte Wand sofort an, eröffnet fast beiläufig einen Diskurs über Moral, Sitte und der Abkehr von beiden Parametern, rechtfertigt ihre Gewalt und verführt zur Zustimmung - oder etwa nicht?
Ich finde Bendis fluktuierendes, brechendes moralisches Moment extrem spannend, gerade heute, wenn sich vor Wasserwerfern hunderte von Fäusten ballen erscheint die Wut Scarlets gerecht und berechtigt. Aber wann verlässt man diesen schmalen Grad, wann werden diese Tat (trotz aller politischen Chiffren) nur noch Verbrechen sein? Wann wird aus Scarlet ein Punisher mit eigener Raubtiermoral und protoautoritärem Weltbild? 
Vielleicht wird dieser Comic sogar der besser V for Vendetta, weil hier nicht nur der einfache Weg in den Widerstand beschreiben wird, sondern auch auf die Problematiken des gewaltsamen Wegs hingewiesen wird. Somit ist dieses bunte Stück Galle eine interessante, tagesaktuelle Überlegung zu Menschlichkeit, Moral, der eigenen Antriebslosigkeit und der realen Gefahr der Selbstfanatisierung. 
Bin auf den zweiten Teil sehr gespannt, ich hoffe sehr die Serie behält die rohe Kante bei UND verliert sich nicht in einem verflachtem Last Girl-Rachefeldzugbilderrausch, denn dann bleibt er ein kluger, erwachsener Politcomic, der sicherlich noch einiges an Staub aufwirbeln wird. We will see, bis hier hin liefs noch ganz gut - erwerbbar hier.

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