San Luis

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grauer Asphalt
Einem Gedanken gleich, dem – um in Worte sich zu fassen – Courage und Noblesse fehlen, der stetig im Kopf hin und her sich windet – ahnend, befürchtend – Ausreden folgt, das Gewissen mit Vagheit zu umgehen versucht, in seinem Schatten sich versteckt und wartet, schließlich doch nach vorn schlängelt, um letztlich wieder der nächsten Herausforderung mutlos auszuweichen. Einem Gedanken gleich, der zu feige ist, endlich, ohne Umschweife, den Mund zu verlassen, so windet sich die nie aufzuhören wollende Straße durch Berge und Wiesen. Sie zehrt an meiner Geduld, denn Kopf und Muskeln sind lange schon müde, die Schulter beginnt unter dem Gewicht des Gepäcks zu schmerzen.

Unter einem Baum lege ich mich ins feuchte Gras, schließe die Augen, schlummre ein, bis Kälte an mir zu schütteln beginnt und ich mit heftigem Herzen wieder zu mir komme. Ein dicker Nebel ohne Namen hat sich auf den Bergen bequem gemacht – es sieht nicht aus, dass er bald wieder geht. Es herrscht eine Stille, von der man behaupten kann, sie brüllt, und ich denke, dass ich glaube meine Gedanken zu hören. So sehr habe ich mich an Atem und Schritte gewöhnt. Die Kühe jedoch, die einst schwarze Farbtupfer in diesem Panorama aus Grau und Gelb waren, bemerken mich von Weitem. Mit großen Augen und langsam mahlendem Kiefer schauen sie mir noch lange hinterher. Die Pferde zeigen sich scheu, es reicht stehen zu bleiben und nur wenige Schritte auf sie zuzugehen, und schon traben sie schnaubend los.

Ein Zug Erinnerungen rast durch mich. Leute kommen und gehen – manchmal muss man gehen, um bei sich zu bleiben. Nur was, wenn dieser Jemand, der man einst war, selbst gegangen ist?

Ohne Frage, die Landschaft ist wundervoll. Cajas in Ecuador kommt mir in den Sinn, mit Ausnahme der Lagunen, und ich frage mich, mit welchem Gefühl ich heute dort wandern würde. Die Landschaft ist atemberaubend, aber ich bin nicht ergriffen, denn hier in der Hochebene Carolinas fühle ich mich wie ein Kind, dass durch den Rummel streift, aber nirgendwo mitfahren kann. Begehbares Land ist links und rechts – aber jeweils nur wenige Meter von der Straße abseits. Ab da hält Stacheldraht das Vieh auf den Estancias beieinander. Mein Wanderweg ist die Ruta Provincial 9.

Am späten Nachmittag komme ich in Carolina an, einem über 200 Jahre alten Dorf, das einst von den Goldminen lebte. Mich überkommt beinahe Mitleid, mit welcher Gezwungenheit die Gemeinde sich bemüht, jede noch so kleine Randnotiz zur bedeutenden Geschichte zu erklären, um aus den Geldern des Tourismus zu schöpfen. Ich fühle Unbehagen. Mit Verlassen der üblichen Touristenroute sehe ich Orte, die weniger glamourös und spektakulär sind; Menschen mit abgehärmten Gesichtern; Häuser ohne Farbe und Licht, mit Agitation beschrieben; Straßen abgenutzt, uneben, überflutet. Argentiniens Wirtschaft ist im Aufschwung – aber 1800 Höhenmeter sind noch nicht erreicht. Verwirrung löst bei mir ein Schild auf, dass auf das freie wifi-Netz aufmerksam macht. In einem kleinen Markt, der durch leere Regale besticht, kaufe ich mir Gebäck und Erdnüsse. Dann schlage ich am Fluss im Dorf mein Zelt auf. Es dämmert. Überall Hunde. Es ist bitterkalt, so dass ich mich bald in den Schlafsack lege. Ich denke nach über diesen Ausflug, der zum wiederholten Male mich zurücklässt, mit der Frage, was ich hier eigentlich mache, so dass ich fast schon von der ›Banalität des Reisens‹ sprechen möchte. Morgens bin ich von San Luis nach Inti Huasi gefahren, einer über 6.000 Jahre alten Höhle, die einst das Zuhause der Ayampitín war. Dort wurden die Überreste von Küchenutensilien, Werkzeugen und Waffen ausgestellt. Später wollte ich Felszeichnungen sehen und eine Bergspitze erklimmen, aber ich hatte nur die Fehlinformationen meines Lonely Planet. Also stiefelte ich nach Carolina, jener alten Siedlung, die in Wirklichkeit meinem Auge nicht das zeigen konnte, was ich in den geheimnisvollen Worten zu diesem Ort zu erblicken dachte.

Noch in der Dunkelheit baue ich mein Zelt ab und warte auf den Bus zurück nach San Luis. Unentwegt bewege ich mich, um die Kälte abzuschütteln, als ein abgemagerter Hund auf mich zu läuft. Ich teile mein Brot. Aber es ist ihm nicht genug, er wedelt mit dem Schwanz, winselt. Also breche ich meine Möhre, er hascht schon nach meiner Hand. Aber Hunde verhalten sich diesbezüglich wie einige unserer Zeitgenossen – Essen ohne Fleisch ist kein Essen.

im Gästehaus
Die reizende Mitarbeiterinnen meiner Herberge wählt das kleinere Übel – sie unterhält sich nicht mir. Stattdessen schaut sie Fern. Es wird gespielt: Team ›Blau‹ gegen Team ›Rot‹. Durchaus attraktive 90-60-90 stehen halbnackt da, mit einer Röhre aus Plexiglas um den Hals gewunden. Ihnen gegenüber sind Männer – unattraktive – positioniert. Diese halten Wasserpumpen in den nervösen Händen. Dann ertönt das Startsignal und in den folgenden grausamen 60 Sekunden – die dieses Spiel währt – während der Spritzer und die Bespritze, die Moderatoren und das Publikum lächeln, lachen und zum Rhythmus der Musik klatschen, wirft sich in mir lediglich die Frage auf, ob das, das 21. Jahrhundert ist.

Überraschenderweise ist das Gästehaus wie ausgestorben, mit Ausnahme eines Mannes, der hier eine Woche Ferien macht. Er ist schweigsam, vermutlich ist er aber auch eingeschüchtert, denn um mich verständlich zu machen, muss ich mich weiterhin einer Gestik bedienen, die man tendenziell mit südkoreanischer Kampfkunst assoziieren würde.

Ich stehe oft im Garten herum, lausche dem Rascheln der Blätter. Es wird Winter. Das steht im Himmel geschrieben. Auf einem Dach wandelt eine schwarze Katze. Ich lasse sie mit zugekniffenem Auge auf meinem Zeigefinger balancieren. Auf dem Nachbargrundstück laufen Ferkel und ein Hund, der mich nicht leiden kann, herum.

rote Erde
Erstarrte Landschaft. Leerer Himmel. Selbst die Luft steht. Nur am Horizont flimmern die Berge. Nacken und Hosenbein brennen. Ich höre nur das Knirschen unter meinem Schuhwerk und nur meine Schritte wirbeln Staub auf. Der Boden ähnelt der Haut eines sehr alten Menschen. Links und rechts wachsen zerzauste kniehohe Dornenbüsche. Sechs Kilometer nur sind es bis zum Tal, zum Canyon. Aber meine Beine sind noch von der Wanderung in den Bergen um Carolina schwer, die Schulter noch lädiert. Die Spuren von Pferdehufen, Hasen, Graufüchsen, allerlei Vögeln und Reifen kreuzen meine Spuren. Weit hinter mir erhebt sich weißlicher Staub, wachsend, dröhnend. Dann passiert mich der Bus. Denn ich möchte mich anstrengen. Das gehört für mich zum Erleben von Natur dazu: Sich anstrengen, ihr ausgeliefert sein, sie zu atmen, zu riechen, zu fühlen und im Anschluss sich erst belohnen. Es zieren sie bereits mehr als Genug Narben – warum also immer schneller, bequemer, leichter? Ich glaube ich möchte das nicht verstehen. Ich mache Rast und höre unbekannte Geräusche im Gebüsch: Wühlen, Kratzen, zu Seite sich biegendes Geäst, Fiepen. Dann setze ich meinen Weg fort, und wenn man mich jetzt nach dem Sinnbild für Argentinien fragen würde, dann würde ich dieser Person das Bild einer endlosen, staubigen Straße mitten im Nirgendwo zeigen … ja, genau das ist Argentinien.

Und endlich … endlich wieder staune ich, lächelnd, glücklich. Endlich wieder sehe ich etwas, was mich bewegt. Ich habe noch nie ein Canyon gesehen. Schluchten, hunderte Meter tief, in deren Tälern es grünt. Am Horizont erheben sich organisch anmutende, ineinander verschlungene Gebilde, teils dunkel bewachsen. Die Schatten sind hart und von blauer Note. Je länger ich diese Verwerfungen betrachte, umso lebendiger scheinen sie. Weiter südlich wirken die Sandstein-Formationen wie gigantische Burgmauern, mit drakonischen Türmen abgesichert. Selbst in dieser Entfernung kann ich die einzelnen Gesteinsschichten erkennen – abwechselnd hell und dunkel, sich biegend und dehnend schüren sie das Ensemble.

Deplatziert, hier inmitten lebensfeindlicher Umgebung, wirkt die Argentinische Flagge schon. Schön ist sie, wunderschön, gar poetisch – und weniger martialisch als die des Landes in dem ich lebe. Überhaupt wäre das in meiner Heimat nur schwer vorstellbar: Flagge hissen. Die Argentinier sind unbedarfter. Sie ist überall, selbst im Himmel an einem sonnigen Tag.

Dann mache ich Fotos für Sebastian. Und gehe langsam zurück, gehe um einen Felsen herum … und plötzlich holt mich ein Schrei in die Wirklichkeit zurück. Die Frau, die gerade ihre ältere Begleitung photographieren wollte, fasst sich ans Herz und schaut mich für einen kurzen Moment erschrocken, dann lächelnd an. Ich muss schlimm aussehen. Denn ich habe Rigips im Gesicht – im Supermarkt verkaufte man ihn als Sonnencreme. Ich gelange wieder auf die Straße, die zur Hauptstraße führt, gehe mit Billy Bragg und Selbstgesprächen, als ein Auto stoppt. Ein älteres Ehepaar nimmt mich mit. Beide sind neugierig, gastfreundlich. Sie bieten mir Mate an, dann Kekse, die ich alle probieren muss, obwohl ich nicht möchte, und für einen kurzen Moment frage ich mich, ob die ältere Dame – mit den grasgrünen Augen nicht doch die Hexe ist, die mich ins ›Lebkuchenhaus‹ führt. Der Gang unserer Unterhaltung führt uns zur Politik, die – es mag schon fast nach Klischee klingen – mit den üblichen Attributen umschrieben wird. Auf meine Frage, was denn die Leute dagegen machen, vor allem die Jungen, die Studenten und verweise auf die Proteste in Barcelona, legt sie den Zeigefinder auf die Lippen und antwortet dann: Nichts … nichts … es wird protestiert und das war’s dann. Ruhe ist dann. Ich demonstriere, ja, ich demonstriere. … aber die Politik, die Politik … das ist tief in uns drinnen. Die machen nichts, nur reden und reden.‹ Die Dame zeigt mir später voller Stolz Fotos ihrer Kinder und Enkel. Ihr älterer Sohn arbeitet sogar in Berlin – in einer Wäscherei. Er hat in Frankfurt – wo sie mit ihrem Mann vor über 20 Jahren im Rahmen einer Europareise war – studiert. Dann zählt sie Deutsche Städtenamen auf. Beide leben in Buenos Aires. Und als ich sage, dass ich ihre Stadt toll finde, entgegen sie, dass es dort ungemein gefährlich sei. Ich stutze, und ihr Mann zeigt mir das Veilchen unter dem Brillenrand. Ich werde bis zum Busbahnhof gefahren und möchte aussteigen, als die Dame in langen Sätzen ihre Freude über meine Begleitung äußert. Ich bekomme ein Kuss auf die Wange, ihr Mann schüttelt meine Hand. Ich bedanke mich, woraufhin beide antworten ›Nein, wir haben uns zu bedanken. Danke für deine Mitfahrt.‹ Die Tür ist bereits offen, als ich noch nach meinem Namen gefragt werde. Und als sie endlich ihn aussprechen kann, reicht sie mir noch eine Tüte Kekse.

So sind sie …

im Supermarkt
Ich kaufe Möhrchen, Zwiebeln und Birnen ein. Und während ich mir die Beine in den Bauch stehe, sage ich mir insgeheim ›Gut, dass ich keine Eiscreme oder Eier eingekauft habe‹. Zufällig erblicke ich eine Prinzessin aus Tausend und einer Nacht und möchte fast verzweifelt aufschreien ›Warum ist die Schlange nicht länger, die Wagen voller und das Kassenband langsamer?‹ Und hätte … ach nein, da mein Spanisch nicht überzeugend ist, lasse ich es sein … ich schäme mich für mein Äußeres: Ich habe die Anmut eines Mauerlehrlings aus Lichtenberg nach einer Doppelschicht.

Dennoch, draußen vor dem Eingang fühle ich mich wie Gott. Ich schiebe meine Sonnenbrille runter, zünde mir eine an, lächle … und wenn ich jetzt diesen Ford Falcon fahren könnte, mit ihr und einer Flasche Gin als Beifahrer …


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