Rezension: Susanna Schwager – Freudenfrau. Die Geschichte der Zora von Zürich. (Wörterseh 2014)

Zürich ist eine schöne Stadt. Eine saubere Stadt. Platz 2 auf dem Ranking der Städte mit der höchsten Lebensqualität. In der Zürcher Altstadt atmet jede Mauer den jahrhundertealten Geist bewegter Geschichte und feierlicher Tradition. Aber da gab und gibt es auch Abgründe. Schreckliche, unmenschliche Abgründe. Susanna Schwager erzählt die Geschichte der Roten Zora von Zürich, einer couragierten Frau, der das Leben mannigfaltige Grausamkeiten zumutete – und die doch immer wieder betonte, Glück zu haben. Ein beeindruckendes Buch.

freudenfrauIn einem kurzen Vorwort schreibt die Autorin Susanna Schwager (*1959): “Ich trage zusammen, was in Gesprächen an mich herantritt und mir überlassen wird. Ich erfinde nichts, ich verdichte. Die Wahrheit entzieht sich, wie stets. Im besten Fall entsteht Wahrhaftigkeit.” Die Gespräche, die in diesem Buch mündeten, führte Schwager insbesondere mit Hedy (die Namen sind verändert), einer Frau, die Mitte der Achtzigerjahre an der Zürcher Zähringerstrasse unter dem Beinamen Rote Zora (wegen der roten Haare) einen Domina-Salon eröffnete, in ein gewalttätiges Milieu geriet und unmenschlich gefoltert und misshandelt wurde. Susanna Schwager lässt Hedy ihre von der ersten Minute an von drastischen Wechselfällen des Schicksals geprägte Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählen. Die Autorin greift nicht als Erzählerin in den Monolog ein, sie lässt der Erzählung der Protagonistin freien Lauf – und das ist gut so.

“Ich dichte nie. Nie! Ich mag nicht erfinden. Ich hatte nie Zeit, etwas zu erfinden. Alles war sowieso schon immer passiert, bevor ich es erfinden konnte.”

Hedys Geschichte wurzelt in St. Gallen, der Heimatstadt ihrer Eltern, beginnt aber in Basel, wo sie zur Welt kam und den Zweiten Weltkrieg miterlebte. Als junge Frau lernt sie später in Berlin den Sohn eines nordafrikanischen Hotelbesitzers kennen und folgt ihm in den Maghreb. Sie heiraten, Hedy bringt eine Tochter zur Welt. Im reichen Hotel führt sie ein Leben in Saus und Braus. Doch der Mann, Hadi, betrügt sie..

“Mit der Zeit sieht man klar. Und dann ist es richtig elend. Weil die schönen Bilder, die man sich vom Leben geklebt hat, zerbröseln, ein Haufen Mist, nicht wahr. Ich hatte mir doch alles ganz anders vorgestellt.”

Sie flieht mit ihrer Tochter zurück in die Schweiz, der Vater reist ihr nach, stiehlt das Kind und lässt ein Einreiseverbot verhängen. Ein langwieriger Sorgerechtsprozess beginnt. Letzendlich gewinnt Hedy und kann mit ihrer Tochter in der Schweiz leben. Hier aber beginnen die Probleme erst. Weil Hedy für ihre Mutter und ihre Tochter sorgen muss und mit dem Bürojob, den sie hat, nicht genug Geld nach Hause bringt, eröffnet sie im Zürcher Niederdorf einen Domina-Salon. Sie prostituiert sich – ohne Sex, sie “hilft” den Männern nur. Und mächtige Männer sind es, die sich an das Turnpferd der Roten Zora, wie Hedy nun genannt wird, fesseln lassen: Bankiers, Anwälte, Politiker.

“Es ist eine Arbeit. Und man muss sorgfältig sein, man muss das richtige Mass haben. Es braucht Einfühlung und Feingefühl. Und einen Reitsattel, da band ich sie drauf an. Ich habe nie richtig geschlagen, sicher nicht. Das hätte ich nicht gekonnt. Eine Ahnung geben. Ein Gefühl, den Film erzeugen, eine Geschichte spielen. Spannung aufbauen.”

Dass die Achtzigerjahre einen eher unrühmlichen Platz in der Zürcher Stadtgeschichte einnehmen, ist bekannt. Im Mittelpunkt stand der international als “Needle Park” bekannte Platzspitz, eine von der Polizei kaum angerührte Anlage, in der sich Drogenabhängige unter grausamen Bedingungen tummelten und zu Grunde gingen. Gemeinsam mit stadtbekannten Persönlichkeiten wie Pfarrer Ernst Sieber versuchte Hedy einigen von ihnen zu helfen. Nebenbei ging sie ihrer Arbeit nach, geriet aber, nachdem sich im Frühjahr 1984 zwei Untermieterinnen ihres Salons zwielichtigen Zuhältern angeschlossen hatten, selbst in Gefahr: Man wollte an ihr ein Exempel statuieren. Sie wurde brutal gefoltert und misshandelt, überlebte nur durch einen unbeschreiblichen Zufall. Und es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass Hedy beinahe ermordet worden wäre, wenngleich unter anderen Umständen…

Die letzten Jahre ihres Lebens – Hedy verstarb im Februar 2014 – verbrachte sie mit ihrem Coucousin Päuli, den sie seit frühester Kindheit kannte. Auch ihm gibt Susanna Schwager eine Stimme. Und auch ein ‘Werner Freudiger’ genannter ehemaliger Sittenpolizist kommt zu Wort: Er ist ein Jugendfreund der Autorin und brachte sie auf die Geschichte, in die er, damals in den Achtzigerjahren, selbst tief hineingezogen wurde.

“So ein Glück!”, “Ich hatte Glück”: das sind Sätze, die Hedy immer wieder sagt. Und je mehr man erfährt über ihr Leben, desto erstaunlicher und kräftiger wirken diese Sätze. In einem Leben, das von derart viel Unglück heimgesucht worden ist, immer wieder an das Glück zu glauben – das ist Courage. Susanna Schwagers effektive, glasklare ‘Verdichtung’ der Sprache und die perfekte Dramaturgie des Buches leisten ihren Teil zur Entstehung dieses ergreifenden Sittenbildes, das Stadt- und Kriminalgeschichte vereint, in erster Linie aber das Portrait einer wahrhaft bemerkenswerte Frau zeichnet, die man bewundern und nicht wieder vergessen wird. Eine unbedingte Leseempfehlung.

Schwager, Susanna. Freudenfrau. Die Geschichte der Zora von Zürich. Gockhausen: Wörterseh 2014.


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