Rezension: Leta Semadeni – Tamangur (Rotpunkt 2015)

Die preisgekrönte Graubündner Lyrikerin Leta Semadeni legt mit “Tamangur” ihren ersten Roman vor. Wobei die Gattungsbezeichnung nicht zutrifft, handelt es sich doch vielmehr um eine Serie von Momentaufnahmen in bild- und metaphernreicher lyrischer Prosa. In ihrem Zentrum: Eine Lebensgemeinschaft von Grossmutter und Kind und der Erinnerung an den Grossvater, der nach Tamangur gegangen ist. 

tamangur

Leta Semadeni (*1944) hat schon mehrere Gedichtbände veröffentlicht, deren Texte jeweils in deutscher Sprache und im rätoromanischen Idiom Vallader gedruckt sind. Semadeni fungierte dabei jeweils als ihre eigene Übersetzerin, zuhause fühlt sie sich in beiden Sprachen. Der Band “In mia vita da vuolp / In meinem Leben als Fuchs” (2011) fand grosses Echo und wurde unter anderem mit dem Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Als Lyrikerin vermochte Leta Semadeni so schon verdienstvolle Beiträge zum Zusammenwirken des Deutschen und des Rätoromanischen beisteuern. Wenig erstaunlich erscheint es vor diesem Hintergrund, dass sich die Autorin für ihr erstes Prosastück einen Titel ausgesucht hat, dem in der politischen Geschichte des Rätoromanischen eine symbolkräftige Rolle zufällt: Tamangur.

Tamangur ist ein entlegenes, rohes Moor- und Arvenwaldgebiet in den Bündner Alpen oberhalb des Dorfes Scuol, in dem Semadeni zur Welt kam. Unter anderem in Werken des Dichters Peider Lansel wurde die Hartnäckigkeit  und Überlebenskraft dieser Landschaft zum Symbol für den Kampf, den die rätoromanische Gemeinschaft auszufechten hatte, bis ihre Sprache 1938 letztlich zur offiziellen Landessprache erhoben wurde. In Leta Semadenis Text freilich ist Tamangur nicht (nur) realer Ort, sondern insbesondere der Übername des christlichen Himmelreichs.

In diesem befindet sich der namenlose Grossvater, ein Jäger, der eine namenlose Grossmutter und ihre ebenso namenlose Enkelin auf der Erde zurückgelassen hat. Die beiden leben zusammen im Dorf, ja sie halten sich gegenseitig am leben. Dass die Protagonistinnen keine Eigennamen tragen, weist darauf hin, dass die Autorin von etwas Allgemeinem sprechen möchte, von etwas Abstraktem, das die individuelle Lebensgeschichte übersteigt. So liest sich “Tamangur” denn auch nicht als Erzählung mit klaren Entwicklungslinien, sondern als eine bild- und metaphernreiche Serie von Momentaufnahmen (73 Kapitel auf 143 Seiten!).


“Es kommt vor, selten zwar, aber es kommt vor, dass auch die Grossmutter zu tief ins Glas schaut. Dann sagt sie zum Kind:
Ich rede dummes Zeug, hör nicht auf das, was ich sage.
Wenn sie zu tief ins Glas schaut, muss sie unbedingt auch eine der Toscani rauchen, die der Grossvater zurückgelassen hat.
Das gehört dazu, sagt sie, wenn schon, denn schon. Sündigen soll man nicht zu knapp, es würde den Aufwand nicht lohnen.
Auch ihre Seele muss von Zeit zu Zeit mit der Kaminfegerbürste kräftig durchgebürstet werden.
Man muss schliesslich ein paar böse Gedanken und Wörter loswerden, und das geht am besten, wenn man zu tief ins Glas schaut, sagt die Grossmutter. Den Kleiderschrank entrümpelt man ja auch von Zeit zu Zeit.”

Das Personal um Grossmutter und Kind bildet einerseits der tote Grossvater, der als Erinnerung alles Dasein der beiden Frauen dominiert, andererseits vorwiegend von Elsa, eine der Realität leicht entrückte Frau aus der Nachbarschaft, die gerne einmal Elvis Presley zum Abendessen mitbringt. Ausserdem sind da Tiere: eine einzelgängerische Ziege, ein Hund, ein Fuchs, der eigentlich eine verzauberte Frau ist. Einige dieser Motive wurden von Leta Semadeni früher bereits in Gedichten aufgegriffen, in denen es von Tieren häufig nur so wimmelt. In einer rustikalen Manier, in der durch weite Reisen erworbene Weltgewandtheit, hinterwäldlerischer Aberglaube und eine melancholische Sehnsucht zusammenfinden, erklärt die Grossmutter das Leben,  seine Abgründe und seine Freuden, kaum je um eine Weisheit verlegen.

Läse man “Tamangur” als Roman, bliebe ein ziemlich unbefriedigender Nachgeschmack. Es gibt wenige klar nachvollziehbare Entwicklungen und viele Lücken (Was, zum Beispiel, hat es explizit mit dem Fortgehen der Eltern des Kindes auf sich?). Leta Semadeni pflegt eine sehr einfache, klare Sprache, die nicht Geschehnisse beschreibt, sondern Bilder entstehen lässt. Nimmt man das Buch dementsprechend als eine Sammlung lose zusammenhängender Miniaturen an, zur Prosa verdichtete Schnappschüsse aus einem Dorfleben, die gar nicht zwingend in der vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden müssen, ist die Lektüre durchaus bereichernd und manch lyrisches Kleinod kann daraus gehoben werden.

Semadeni, Leta. Tamangur. Zürich: Rotpunkt 2015. 144 S., gebunden. 978-3-85869-641-0


Weiterführend:

Aktuelles Interview (6.3.2015) mit Leta Semadeni, die sich bis zum 3.4.2015 auf Einladung von Pro Helvetia im Deutschen Haus in New York aufhielt.

Am 14. April um 18 Uhr findet in der Kantonsbibliothek in Chur die Buchvernissage mit Leta Semadeni und Angelika Overath statt.


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