Postkarten aus Arkadien

Und dann war wieder eine im Briefkasten. Eine Postkarte meiner Tante. Aus ihrem Feriendomizil in Ungarn. »Leute nett. Wetter schön. Essen gut. Bis bald, eure Tante«, stand auf der Rückseite einer Naturaufnahme des Balaton. Wir lachten. So klangen alle ihre Karten. Aus Barcelona schrieb sie uns ein halbes Jahr zuvor: »Leute nett. Wetter schön. Essen gut. Bis bald, eure Tante.« Und als sie im Schwarzwald war, lautete ihr Text ... ihr könnt es euch ja denken.
Postkarten aus ArkadienDiese Postkarten, die unsere allgemeine Stimmung hoben, weil sie uns kündeten, was wir erwarteten, dieses wiederholte Abspulen fester Kurzsätze, die Gewissheit, dass man adäquat einen Überblick über die Lage bekam, wie man sie ohnehin vorzufinden glaubte, all das war ein Mosaiksteinchen unserer Kindheit. Eine lustige Konstante, die mir als blöde Erinnerung bleibt. Diese Postkarten hatten Kultcharakter. Sie machten Spaß, weil sie eben gar nicht spaßig gemeint waren. Wir lachten, weil es ihr voller Ernst war. Das erzeugte Laune. Keiner fragte vorher was sie wohl geschrieben haben könnte; wir wussten es ja eh. Aber wir lasen trotzdem voller Spannung. Wollten die Erwartung bestätigt haben. Und nebenbei kam so die weite Welt zu uns. Eine Welt, die ja überall gleich zu sein schien. So erfuhr ich als Kind recht schnell, dass es überall Leute, Sonne und Nahrungsmittel gibt. Die Welt war letztlich auf diese drei Dinge reduzierbar. Man hatte einen netten Überblick.

Ich denke in letzter Zeit wieder oft an Tantes Karten. Sie kommen mir in den Sinn, wenn ich die Verlautbarungen zu Merkel-Deutschland höre. »Leute glücklich. Klima mild. Alle satt. Alle finden Arbeit. Bis bald, eure Kanzlerin.« Ja, diese Wasserstandsmeldungen sind nichts anderes als Postkarten aus dem hiesigen Arkadien. Sie klingen alle immer gleich. Beständig dieselben Sätze, derselbe kurze Überblick über die Lage. Ich lausche den Klängen und denke an die Karte vom Balaton. Tante fuhr weg und wollte vielleicht nicht protzen, aber sie wollte unsere und ihre Erwartungen zementieren. Alles war gut und das musste auch fixiert werden. War es mal nicht so gut, schrieb sie es nicht. Auch das ein Vorgriff auf die Postkarten, die man uns heute wöchentlich reicht. Man schreibt nur auf, was jeder zu erwarten hofft. Bestätigung, nicht Information.
Der Chef der Arbeitsagentur erzählte diese Woche, dass Hartz IV das beste Programm aller Zeiten sei. Und Vollbeschäftigung stehe auch vor der Türe, fügte er hinzu. Ach, der Chef der BA. Der Weise. Der heißt nur so. Aber Postkarten aus Merkel-Deutschland kann er schreiben. Das ist seine Qualifikation. »Leute glücklich. Klima mild. Alle satt. Alle finden Arbeit. Bis bald, i.A. der Kanzlerin, euer Frank-Jürgen.«
In Arkadien gab es mal einen, der versprach, er würde die Steuererklärung auf Bierdeckelgröße schrumpfen. Das ist Jahre her und mittlerweile haben die Mikrokosmologen diesen geplanten Sprung ins Winzigkleine getoppt. Sie reduzieren jetzt den Gesamtzustand der Republik auf Postkartengröße. Mal schreibt der Weise eine, mal der Wirtschaftsweise, mal jemand auf unnachahmliche Weise. Selten waren Nomen so wenig Omen. Aber wir haben uns entwickelt. Von Höhlenmalern zu Kartenschreibern, von Postkartenmalern, die früher mal Amtsgeschäfte übernommen haben, zu Postkartenschreibern, die sie heute erledigen.
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