Philippe Lançon. Der Fetzen

Philippe Lançon. Der FetzenKaum habe ich dieses Buch zugeschlagen, da vermisse ich es bereits. Ich habe das Gefühl, ich hätte mich gerade stundenlang mit Philippe Lançon über Literatur und Musik unterhalten. Über Kafkas Briefe an Milena, Thomas Manns Der Zauberberg und über Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust (Lançons ständige Begleiter und Lebensretter). Und immer wieder über Bachs Goldberg-Variationen (Glenn Gould) oder Das wohltemperierte Klavier (Svjatoslav Richter). Die Musik von Bach schenkte ihm Erleichterung wie die tägliche Dosis Morphium:
Ja, mehr als das: Sie machte jeden Ansatz einer Klage, jedes Gefühl von Ungerechtigkeit und jede Fremdheit des Körpers zunichte. Bach senkte sich über das Zimmer und das Bett und mein Leben, über die Krankenschwestern und ihre Wagen. Er hüllte uns ein. Im Leuchten seiner Klänge zeichnete sich jede einzelne Geste ab, und der Friede, ein besonderer Friede machte sich breit (Seite 280).

Der Fetzen ist zwar geprägt von solchen Sätzen, die mir im Moment des Lesens die Illusion schenken, alles sei gut. Dennoch ist das Buch nicht die hoffnungsvolle Story eines verletzten Mannes, der irgendwann wieder mit beiden Beinen im Leben steht. Das Trauma der Ereignisse vom Januar 2015 wird wohl für immer und unauslöschlich Lançons Erinnerungen bestimmen. Selbst mir, die nun dieses Buch gelesen hat, haben sich diverse Bilder ins Gedächtnis gebrannt. Die Sekunden des Massakers, die Minuten danach und die folgenden Monate, in denen ein hervorragendes Ärzteteam die untere Gesichtshälfte des Autors rekonstruiert. Nicht immer wird unter Vollnarkose operiert und so sind es auch hier die Goldberg-Variationen, welche ihn seelisch begleiten. Und es sind ebenfalls die Bachschen Noten, die ihn umgeben, als er mit klinischem Blick in einen kleinen Handspiegel schaut:

Meine Unterlippe und die meisten Zähne waren verschwunden. Am Rand des intakten Gesichts sah ich mit masochistischer Genugtuung das vertraute Monster wieder. Wenn ich ein gemaltes Porträt war, hatte die Hand des Künstlers so sicher wie die Raffaelsche, etwa zehn Zentimeter der unteren Bildhälfte verwüstet, … das Gesicht, das ich einmal hatte, war eine mittlerweile verschollene Konvention (Seite 281).

Das Besondere an diesem Buch – Lançon erzählt frei von jeder Wertung und ohne Hass. Ich empfinde keine Wut auf die Brüder Kouachi, schreibt er auf Seite 300. Wie schafft er das nur?! Sie haben sein Leben für immer zerstört. Von einer einzigen Sekunde zur nächsten. Eben stand er noch in der Redaktion Charlie Hebdo, um seinem Freund ein Buch zu zeigen, im nächsten Moment beginnt der grausame Albtraum aus Geschrei, Geschoßlärm und Allahu-Akbar-Rufen.
Doch Lançon beschreibt nicht einfach die stumpfsinnige Abfolge des Massakers. Die Worte, die er wählt, lassen daraus einen makaberen Tanz in Zeitlupe werden. Wie durch einen Nebel und gleichzeitig total präzise stürzen um ihn herum die Freunde und Kollegen zu Boden. Die Bilder wirken nicht mehr real, eher wie in einer Graphic Novel und mir fällt die Verfilmung von Waltz with Bashir ein. Auch hier gibt es eine Szene, wo junge Männer einen grausamen Tanz im Feuer der Gewehrsalven tanzen.
Philippe Lançon liegt am Boden, schließt die Augen, öffnet und schließt sie schnell wieder … wie ein Kind, das glaubt, niemand könne es sehen, wenn es sich nicht bewege.
Sein Freund Tignous war gerade am Zeichnen oder Schreiben gewesen. In einem Polizeibericht, den Lançon später liest, ist vermerkt, dass der Stift noch senkrecht zwischen den Fingern des Toten steckte – ein Detail, das von der Geschwindigkeit zeugt, mit der sich das Massaker vollzogen hatte. Und von der Fassungslosigkeit, die der Hinrichtung voraus ging.

Tignous ist mit dem Kugelschreiber in der Hand gestorben wie ein von der Lava erfasster Bewohner Pompejis, ja sogar noch schneller, ohne zu wissen, dass die Eruption stattgefunden hatte und die Lava heranwälzte (Seite 90).

Fassungslosigkeit ist ein absolut treffendes Wort, um den Gemütszustand zu beschreiben, der einen beim Lesen dieses Buches begleitet. Ich musste es zwischendurch weglegen, immer aber rief es mich wieder zurück und packte mich dann erneut mit seiner sprachlichen Schönheit und gnadenlosen Präzision. Lançons Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit der Gedanken in Literatur, Musik und Kunst.
Bereits sieben Tage nach dem Attentat schreibt er seinen ersten Text und er spricht darin von der Gewissheit, warum er seinen Beruf bei Charlie Hebdo und Libération schätze und weiterhin ausübe:

… weil ich die Freiheit hochhalte und für sie eintreten möchte, in Form von Nachrichten oder Karikaturen, in guter Gesellschaft und in allen möglichen Formen, die, selbst, wenn sie missraten sind, kein Urteil verdienen (Seite 215).

Das könnte ein positiver Abschluss sein, doch so optimistisch denke ich nicht. Nicht mehr. Mich hat seit einigen Jahren eine latente Angst gepackt. Und die Ereignisse im Januar 2015 sind nur ein Teil dieser Angst. Es ist die Bereitschaft zur Gewalt gegen Andersdenkende, die diese Angst in mir auslöst. Es gab Situationen in meinem Alltag – eine Fahrt mit der Metro, die Bemerkung eines Kunden – wo ich dachte, jetzt zückt er ein Messer oder eine Bombe.
Als im November 2015 erneut ein Attentat in Paris unzählige Menschen in den Tod reißt, bin ich gerade in Prag. Eine Freundin schickt mir eine WhatsApp und schreibt: “Bitte sag mir, dass du momentan nicht in Paris bist!” Bin ich nicht, doch ich stehe unter Schock. Wo warten die nächsten Attentäter? Eigentlich will ich mit meinem Sohn heute auf den Hradschin. Überall bewaffnete Polizei mit Schusswesten, Einlass-Kontrolle … wir beschließen, es jetzt erst Recht zu tun und schauen später auf die Prager Altstadt – ein atemberaubender Ausblick.

Und weil sein Name sich durch dieses Buch zieht wie ein roter Faden, möchte ich am Ende Michel Houellebecq nicht unerwähnt lassen. Beide sind sich vorher nie begegnet, und Lançon will ihn am Tag des Massakers zum gerade erschienen Roman Unterwerfung interviewen. Doch statt auf direktem Wege, geht er vorher noch in die Redaktion von Charlie Hebdo.
Als Lançon im Sommer 2015 auf seine erste Party geht, begegnet er dort Houellebecq. Beide Autoren mit Polizeischutz. Auf Lançon wirkt Houellebecq wie ein Mensch, der wirkungsvoll die Verzweiflung der gesamten Welt auf sich nimmt.

Wir reichten uns die Hand. Er wirkte zerstört, mineralisch und mitfühlend. Sein Lächeln grenzte an eine Grimasse … und während wir ein paar kaum verständliche Worte über das Attentat und die Toten wechselten, schaute er mich unverwandt an und zitierte diesen Matthäus-Vers:
‚Und die Gewalttätigen reißen es an sich‘. Ein paar Minuten später ging ich (Seite 540).

Ganz ehrlich – ich war in einem wilden Mix von Gefühlen zwischen Schock, Trauer, wilder Begeisterung und Verzauberung gefangen, als ich nach dem Epilog diesen Roman schließlich zugeschlagen habe. Und auch jetzt, wenn ich hier sitze und schreibe, überwältigt es mich wieder. Der Roman von Philippe Lançon kann wohl niemanden unberührt lassen. Vielen Dank an den Tropen Verlag  für das Leseexemplar.

Philippe Lançon. Der Fetzen. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Tropen Verlag. Berlin 2019. 548 Seiten. 25,- €


wallpaper-1019588
One Piece Café öffnet am Samstag
wallpaper-1019588
Pokémon Karmesin und Purpur – Seltenes Solisten-Pokémon am Wochenende fangbar
wallpaper-1019588
Lazy Summer Collection von Pokémon Company präsentiert
wallpaper-1019588
Nintendo macht neue Angaben über Nachfolger der Nintendo Switch