Paris entblösst uns

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Messerscharf und mit spitzer Feder analysiert der spanische Journalist Ramón Lobo die Lage vor und nach den Anschlägen in Paris und die unglaubwürdige Haltung des Westens im Syrienkonflikt. Er ist sich sicher: «Gesellschaften ohne Gedächtnis können keinen Krieg gewinnen – und den Frieden schon gar nicht.» Übersetzung: Walter B.

Es gibt drei Antworten auf einen Angriff wie den in Paris. Die erste Antwort kommt aus dem Bauch und wird von Marine Le Pens Front National bereits ins Feld geführt: Moscheen schliessen! Islamische Organisationen verbieten! Die zweite Antwort besteht darin, zu behaupten, wir seien im Krieg, und zu fordern, die Bombardierungen in Syrien seien zu intensivieren, die Toten zu rächen. Die dritte Antwort zielt darauf, die Ursachen zu beseitigen, welche dem radikalen Islamismus zugrunde liegen, und die moderaten Moslems zu stärken sowie die Bildung zu fördern. Es ist möglich, dass keine der drei Antworten hilft, geschweige denn eine alleine. Doch alles der Reihe nach!

Vor einem Selbstmörder kann man sich nicht schützen

So sehr man auch in allen Farben und Stufen Warnungen herausgibt, so sehr man auch unzählige Polizisten und Militärs in die Strassen ausschwärmen und an den Grenzen aufmarschieren lässt: Es gibt keinen wirklichen Schutz vor einem Angreifer, der zu sterben bereit ist. Er hat einen Vorteil auf seiner Seite: Er weiss, dass er töten wird. Sein Ziel ist im Nachteil: Es weiss nicht, dass es sterben wird.

Der klassische Terrorist versucht ein Attentat zu begehen, dann zu fliehen und sein Leben zu retten. Ihm gegenüber ist Abschreckung möglich. Der fanatisierte Attentäter, dem eine himmlische Prämie winkt, versucht einen grösstmöglichen Schaden bei der Zivilbevölkerung zu verursachen. Seine Zielobjekte sind nicht notwendigerweise politisch aufgeladen, zum Beispiel Gebäude mit symbolischer Bedeutung oder Amtsstätten, die sowieso normalerweise besser geschützt sind. Es genügt vielmehr, dass die Objekte leicht zugänglich sind. Opfer kann irgendwer sein, wie etwa im Mai 2013 in London, wo zwei Männer einem Soldaten in Zivil die Kehle durchschnitten.

Trotz allem ist Sicherheit notwendig. Ein Beispiel dafür ist das Stade de France, wo die Zutrittskontrolle einen der Attentäter entdeckte, worauf dieser sich auf der Fluch in die Luft sprengte. Gut möglich, dass die anderen zwei Attentäter, die sich in unmittelbarer Nähe aufhielten, ebenso die Absicht hatten, sich innerhalb des Stadions mit 80’000 Zuschauern in die Luft zu sprengen. Ein Stadion kann man schützen, nicht aber jeden Konzertsaal, nicht jedes Restaurant oder Café in einer Stadt wie Paris.

Verteidigen wir die Demokratie und die Freiheit!

Das ist die meist wiederholte Erklärung der Führer Europas und der Vereinigten Staaten. Das Problem ist nun allerdings, wo wir solch edle Werte denn überhaupt in die Tat umsetzen. Manchmal nicht einmal innerhalb unserer eigenen Landesgrenzen. Siehe zum Beispiel die Ley Mordaza[1]. Und wir übertragen sie schon gar nicht auf jene Länder, wo die Reichtümer herstammen, die erst unsere Art zu leben ermöglichen. Wo es Erdöl in Hülle und Fülle gibt, strategische Erze – und Sklavenarbeit, dort funktionieren diese Prinzipien nicht, weil wir sie durch unsere Interessen ersetzen.

Wenn aber Erklärungen solch pompöser Art fürs Heimpublikum ausgesendet werden, so vergrössert sich dadurch nur die Kluft zu den Welten der Armut, der Ungerechtigkeit, des Hungers, des Machismus und der Ausbeutung, weil es aufzeigt, dass wir nichts verstanden haben und weiterhin auf dem hohen Podest der moralischen Überlegenheit stehen bleiben, einer Überlegenheit, die uns ein Teil der Welt schlicht nicht mehr abkauft.

Was für eine Demokratie haben wir in Ägypten verteidigt, als die Muslembrüder, welche die Wahlen gewonnen hatten, von der Macht entfernt wurden? Was für eine Freiheit wird in den von Israel besetzten Gebieten verteidigt? Für welche Werte kämpfen wir nach den Terroranschlägen vom 11. Sepember 2001 in all den Geheimgefängnissen, mit den Entführungen und gezielten Tötungen? Was für Prinzipien gaben den Anstoss für die Invasion des Irak, für den Sturz von Gaddafi und den Bürgerkrieg in Syrien? Was für eine Moral kann der Sicherheitsrat für sich beanspruchen, in dem die wichtigsten Waffenexporteure gleichzeitig die ständigen Mitglieder sind und ein Vetorecht innehaben? Wir herrschen. Aber es fehlt uns an Autorität. Und die Herrschaft kann mit Gegengewalt bekämpft werden. Genau dies geschieht jetzt.

Was bombardieren wir in Syrien?

Nach mehr als vier Jahren Krieg, nach 250’000 bis 300’000 Toten und vier Millionen Flüchtlingen fahren wir fort, ohne dass wir wissen, was wir in Syrien überhaupt verteidigen, wer unsere Verbündeten sind und was für Ziele wir haben. Zu Beginn wurde die Freie Syrische Armee unterstützt mit der Hoffnung, sie könne das Regime Baschar al-Assads stürzen. Nie gaben wir ihnen indessen die Waffen und nötigen Mittel, um professionelle Streitkräfte zu besiegen. Angesichts der operativen Unfähigkeit dieser Truppe tauchten andere, immer radikalere Gruppierungen auf wie die Al-Nusra-Front – welche der Al-Qaida huldigt – und die ISIS, aktuel Islamischer Staat (IS) oder Daesh genannt. Einige unserer Freunde am Golf, wie Katar und Saudi-Arabien, waren aktiv an ihrem Aufstieg beteiligt und lieferten Geld und Waffen. Wir könnten dazu auch unser Verteidigungsministerium befragen und die Spuren spanischer Munition nach Riad und bis nach Syrien verfolgen. Niemand ist in dieser Geschichte unschuldig.

Obama hatte den Diktator Assad vor den Konsequenzen gewarnt, falls er chemische Waffen gegen seine Bevölkerung einsetzen würde. Man nannte das die rote Linie. Im August 2013 setzte das Regime solche Waffen in Ghuta gegen eine Stellung der Freien Syrischen Armee ein. 1’400 Menschen kamen um, darunter viele Kinder. Die Vereinigten Staaten griffen nicht ein, nachdem sie es während Wochen erwogen hatten. Sie schlossen sich dann einem russischen Plan an, um die chemischen Waffen des Regimes zu zerstören.

Der Grund für die Untätigkeit der Vereinigten Staaten ist schlicht: Sie wussten nicht, welche Gruppierung eher ihren Interessen dienen würde. Wer würde von einem Angriff auf Assad profitieren: Al-Quaida oder der IS? Zwei Jahre sind vergangen, und wir sind immer noch am selben Punkt. Der Freien Syrischen Armee verbleiben ein paar isolierte Gebiete. Alle Versuche, eine bewaffnete Kraft als Alternative zu den Radikalen und zum Regime zu schaffen, sind gescheitert.

Die Bombardierungen konzentrierten sich auf den IS. Doch es fehlt an Soldaten oder Verbündeten vor Ort, welche die Aufgaben der Infanterie übernehmen. Trotz aller Angriffe auf den IS ist er überall in Syrien stärker geworden. Ebenso im Irak, wo er einige Erdölgebiete beherrscht, was kräftig zu seiner Finanzierung beiträgt.

Seit ein paar Monaten gibt es einen neuen Kriegsakteur: Russland, der Verbündete von Damaskus. Von der politischen, diplomatischen und diskreten militärischen Unterstützung ist Russland dazu übergegangen, im eigenen Namen Bomben zu werfen. Es ist der einzige Akteur, der weiss, was er will: Assad soll gestärkt werden. Russland erachtet ihn als entscheidend, um den IS zu besiegen. Der einzige intelligente Ausweg ist, dass die Vereinigten Staaten, Russland, Frankreich, Grossbritannien und die Türkei, die alle militärisch am aktivsten sind, ihre Ziele und Aktionen koordinieren.

Für den Westen ist es ganz schön paradox: Nachdem er einen Krieg gegen Assad angezettelt hat, ist Assad heute die einzige kurzfristige Hoffnung, den IS in Syrien zu besiegen. Verzweifelt sucht man nun mit Moskau einen Kompromiss, der es erlaubt, das Gesicht zu wahren. Zumindest Assad müsse gehen, sagt man.

Dann sind da noch die Kurden. Sie haben Kobane in Syrien und Sindschar im Irak eingenommen. Es sind hervorragende Kampftruppen. Doch indem man sich auf sie stützt, handelt man sich Probleme mit der Türkei ein. Vor Jahrzehnten haben wir uns auf einen Handel mit ihr eingelassen. Seither gibt es einige böse Kurden, nämlich diese in der Türkei, und einige gute, die gegen Saddam Hussein gekämpft haben. Und in dieser Falle stecken wir nun fest.

Zuerst müsste man den IS besiegen und dann das Regime auswechseln und Syrien demokratisieren. Doch mit welchen politischen und gesellschaftlichen Mitteln? Die Gesellschaft ist zerstört. Dasselbe gilt für weite Teile des Irak. Dieser moralische und emotionale Ruin nährt den IS und andere radikale Gruppierungen.

Refugees welcome

Die gerichtlichen Untersuchungen werden Auskunft geben über den genauen Hergang der Ereignisse in Paris, über die Namen der Attentäter, über ihr Vorgehen und wie sie zu den verschiedenen Tatorten gelangt sind. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass einer oder mehrere der Attentäter nach Europa gelangt sind, indem sie sich unter die syrischen Flüchtlinge gemischt haben. Ein Pass, der in der Nähe einer Leiche gefunden wurde, beweist allerdings noch keinen Zusammenhang. Es kann sich um ein gestohlenes Dokument handeln, um eine Täuschung durch die Mörder.

Die radikalen, ultrakonservativen und ausländerfeindlichen Europäer warten allerdings weder die Untersuchungen ab, noch zeigen sie viel Respekt vor den Leidtragenden. Sie preschten vor, indem sie die Schliessung der Grenzen und die Reduzierung der Flüchtlingsquoten fordern. Ebenso sollen keine neuen Asylsuchende in die EU gelassen werden. Es ist eine alte Debatte: Sicherheit oder Menschenrechte? Wie wenn beide nicht miteinander vereinbar wären. Müssen die Grenzen geschlossen werden, um zu verhindern, dass ein paar Terroristen hereingelangen, obschon die Flüchtlinge vor demselben Terror fliehen, wie wir ihn in Paris erlebt haben?

Die Zeiten für rassistische Argumente sind günstige, ebenso für Lügen und das Feldgeschrei zugunsten der Festung Europa. Würden wir keine neuen Flüchtlinge hereinlassen und die wieder ausweisen, die dieses Jahr gekommen sind, so gewännen wir kein Stückchen Sicherheit. Was am 13. November geschehen ist, wäre auch weiterhin möglich. Denn die grösste Gefahr geht von den 20’000 Ausländern aus, die in Syrien unter der schwarzen Flagge des IS kämpfen, sowie von jungen Menschen, die sich in unseren Quartieren radikalisieren und der Erzählung des IS Glauben schenken. Es ist ihre Art, der Krise zu entfliehen: indem sie Märtyrer werden in einer Welt, die sie nicht zur Kenntnis nimmt.

Die Lösung für die syrischen Flüchtlinge bleibt dieselbe wie vor dem 13. November: mehr Mittel für das UNHCR (UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge), das die Lager in der Türkei, in Libanon und Jordanien betreibt; Unterstützung der Regierungen, die nahe der syrischen Grenzen vier Millionen Flüchtlinge beherbergen; Eröffnung von Amtsstellen vor Ort, welche Asylgesuche bearbeiten und bestimmen, wer Anrecht auf den Flüchtlingsstatus hat, verbunden mit entsprechenden polizeilichen Abklärungen zur Vergangenheit der Gesuchsteller, da jene, die Kriegsverbrechen begangen haben, kein Anrecht auf Asyl haben.

Alles ist Ausdruck von reiner Improvisation: die Flüchtlingskrise ebenso wie die Bombardierungen. Man handelt ohne einen wohldefinierten Plan aufgrund von Schlagzeilen oder von Fotografien ertrunkener Kinder. Syrien blutet seit über vier Jahren aus. Doch wir bemerken es erst seit diesem Sommer. Wer erinnert sich heute denn noch an Alan Kurdi? Ein anderes Opfer des Wahnsinns, unter dem New York, London, Madrid, Beirut und Paris gelitten haben. Gesellschaften ohne Gedächtnis können keinen Krieg gewinnen – und den Frieden schon gar nicht.


Anmerkungen:

[1] La Ley Mordaza: Ein rigides Anti-Demonstrationsgesetz in Spanien, das im Juli 2015 trotz heftiger Proteste von Bevölkerung, Politik und Justiz in Kraft getreten ist und die Teilnahme und den Aufruf zu Demonstrationen unter Strafe stellen kann.

Bildnachweis: Sortir du labyrinthe de la vengeance sans fin, Paris Belleville 2015, von Denis Bocquet, CC-Lizenz via flickr

Das Original in spanischer Sprache ist auf dem Blog Zona Crítica bei eldiario.es erschienen.

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