Michel Houellebecq: Unterwerfung

Wolfgang Krisai: Touristin vor der Kathedrale von Cahors, 2014. Buntstift.Früher schrieb man der Literatur gerne prophetische Kräfte zu. Autoren hätten in manchen Werken geradezu die Zukunft vorausgesehen. Wenn Autoren allerdings bewusst Zukunftsszenarien entwarfen, lagen sie auch oft ganz daneben. Das lässt hoffen, wenn man den neuesten Roman von Michel Houellebecq liest.

Prophetisches Zukunftsszenario: 2022

Dieser bietet nämlich ein solches prophetisches Zukunftsszenario: 2022 stehen in Frankreich Präsidentschaftswahlen an, und ein Muslim gewinnt. Hinter ihm steht eine Koalition aus der dominierenden Muslimbruderschaft und einigen Linksparteien, die sich willig dem islamischen Diktat unterwerfen. Die Koalition kam nur zustande, um einen Sieg des „Front National“ zu verhindern. Das ist gelungen. Und zwar nachhaltiger, als man dachte. Denn mit der gesellschaftlichen Umwälzung, die die Machtübernahme durch die Muslimbrüder bewirkt, verschwindet der „Front National“ ganz von der Bildfläche. Es ist von ihr einfach nicht mehr die Rede. Zumindest im Roman.

Auferstehung des Römischen Weltreichs

Diese Umwälzung gelingt so leicht, weil der islamische Präsident Ben Abbes eine verführerische Zukunftsvision hat: Er will unter islamischen Vorzeichen das antike Römische Weltreich wieder auferstehen lassen, indem sämtliche Mittelmeer-Anrainerstaaten der EU beitreten, deren Hauptstadt Rom und deren Parlamentssitz Athen werden sollen. Nach der Reihe sollen die europäischen Staaten dem französischen Beispiel folgen und islamisch werden. Nach Frankreich ist der erste Staat, der einknickt, Belgien. Einfache Erklärung dafür: Die dortigen nationalistischen Parteien sind in Wallonen und Flamen gespalten, während die Muslime Belgiens landesweit geeint sind und damit stimmenstärkste Partei werden.

Auch für die Gesellschaft hat Ben Abbes klare Visionen: Die Familie – patriarchisch geführt, mit Polygamie – soll die tragende Struktur der Gesellschaft werden, daher wird sie gefördert, wohingegen sozialstaatliche Einrichtungen radikal zusammengestrichen werden. Der gesamte Bildungsbereich wird mit einem Schlag islamisiert, denn in dessen Institutionen werden die Bürger der Zukunft auf die islamischen Werte hingetrimmt. Nicht-islamische Schulen und Universitäten werden in Zukunft nur noch ein Schattendasein führen.

Die Franzosen machen bei dieser Islamisierung ihres Landes willig mit, da ihr Laizismus schal, die katholische Kirche eine schwachbrüstige Randgruppe geworden ist, daher erliegen sie der Faszination der Macht. Zumal vor allem der konservative Flügel in der Gesellschaft viele Gemeinsamkeiten mit der neuen Ideologie hat: Patriarchat, Betonung der Familie, strenge Regeln in den Schulen, Ent-Sexualisierung der Öffentlichkeit (sichtbares Zeichen: die heute allgegenwärtigen Damen-Shorts und kurzen Röcke verschwinden schlagartig), usw.

Eine Nation von willigen Mitläufern

Das ist das Beunruhigende an Houellebecqs Zukunftsvision: Die Franzosen werden in null Komma nichts zu Mitläufern, ja Vertretern der neuen Macht. Die – titelgebende – „Unterwerfung“ der Bürger unter den Islam gelingt umso leichter, als die Muslime nicht mit Gewalt, sondern mit Verführungskraft vorgehen. Houellebecq stellt zwei Verführungen in den Mittelpunkt: die durch das Geld und durch die Vielweiberei.

Sympathischer jämmerlicher Anti-Held

Damit sind wir beim „Helden“ des Romans, dem Literaturdozenten François, der an der Pariser Sorbonne III französische Literatur lehrt und ein ausgewiesener Huysmans-Spezialist ist. Er ist ein halb sympathischer, halb jämmerlicher Anti-Held und der Ich-Erzähler des Romans.

Er gibt uns Einblick in seine Begeisterung für Joris Karl Huysmans (den zu lesen man richtig Lust bekommt), er betrachtet seine Umwelt und seine KollegInnenschaft mit pointiertem, daher sehr unterhaltsamem Zynismus (Universitäten sind offenbar überall der gleiche Intrigenstadel) und er schildert sein unerfreuliches Liebesleben mit spätestens jährlich wechselnden Studentinnen ganz ungeschminkt (also gibt es ein paar eher unappetitliche erotische Stellen im Buch). Weltanschaulich ist er einem wenig gefestigten Atheismus zuzuordnen, also ein Vertreter der Mehrheit der westlichen Bevölkerung (auch wenn er de jure wohl Katholik ist).

Als sich der Wahlsieg der Muslimbrüder abzeichnet, fährt er zur Vorsicht aufs Land, in den Südwesten, und landet eher zufällig in dem kleinen Ort Martel. Dort wohnt zufällig auch eine seiner Universitäts-Vorgesetzten und ihr Mann, ein sehr mitteilsamer ehemaliger Geheimdienst-Mitarbeiter, der François die Augen für das öffnet, was politisch gerade geschieht.

Alles verändert

Als die Wahlen vorbei sind und der befürchtete Bürgerkrieg nicht ausbricht, kehrt François nach Paris zurück. Dort ist aber alles irgendwie verändert. Vor allem die Uni ist vorläufig geschlossen. Nach wenigen Wochen erhält er einen Brief, dass er entlassen sei. Er wird mit einer großzügigen Pension abgefunden und nimmt dieses Angebot anstandslos an. Die Sorbonne wird als Islamische Universität Paris Sorbonne wieder eröffnet. Saudi-Arabien ist nun der Hauptsponsor, alle Angestellten und Lehrer (Frauen sind selbstverständlich nicht mehr darunter) müssen Muslime sein und die Lehre hat sich islamischen Gesetzen zu unterwerfen.

Robert Rediger – ein “Umgestalter”

François hängt nun in der Luft, und es dauert einige Zeit, bis er durch das Angebot, eine Huysmans-Ausgabe der „Pléiade“ herauszugeben, wieder eine vernünftige Arbeit bekommt. Zugleich werden Verbindungen zum neuen Rektor der Sorbonne, Robert Rediger, hergestellt. Dieser hat schon früh begriffen, dass der Islam die Zukunft ist, und sich bekehrt. Ganz im Sinne der neuen Machthaber leitet er die Umgestaltung der Sorbonne. (Vielleicht hat er sogar einen sprechenden Namen: „Redigieren“ ist ja ein „Umgestalten“.)

Er lädt François in sein Privat-Palais ein, wo dieser über Redigers Frauen staunt, vom Gastgeber einen gewinnenden Vortrag über die positiven Seiten des Islam hört und von guten Weinen illuminiert (dass Alkohol im Islam verboten sei, muss ein Gerücht gewesen sein) nach Hause entlassen wird. Nicht ohne einen Traktat über den Islam im Gepäck.

Bei einer bald darauf stattfindenden akademischen Feier betritt François seine ehemalige Wirkungsstätte wieder, mit wehmütigem Gefühl, und im Gespräch macht ihm Rediger (der inzwischen Staatssekretär für Bildungsfragen geworden ist) klar, dass eine Konversion zum Islam für ihn handfeste Vorteile hätte: Sein neues Gehalt wäre dreimal so hoch wie die ohnehin schon stattliche Pension; und die Polygamie – von kundigen Heiratsvermittlerinnen in die Wege geleitet, da man die verschleierten Pariserinnen ja nicht mehr selbst in Augenschein nehmen könne – würde sein marodes Liebesleben in erfüllende Bahnen lenken.

Konversion im Konjunktiv

„Das brachte einen natürlich zum Nachdenken“ (S. 264), ja es „eröffnete [ihm] gleichsam neue Horizonte“ (S. 266), und folgerichtig schließt der Roman mit einem Kapitel, in dem François – im Konjunktiv, wohlgemerkt, das ermöglicht noch ein Fünkchen Hoffnung – seine Konversion zum Islam und seinen Wiedereintritt ins akademische Leben der Sorbonne imaginiert.

Ein erstaunliches Buch

Ein erstaunliches Buch. Ich verschlang es und erlebte keine Sekunde Langeweile. Vermutlich hätte ich es nie gelesen, wenn nicht die Tragödie mit „Charlie Hebdo“ geschehen wäre. Eine wirksamere Werbung für sein Buch hätte Houellebecq sich nicht erträumen können. In Wien stapeln sich die Exemplare meterhoch in den großen Buchhandlungen und noch die kleinsten haben einige Exemplare vorrätig.

Für das ganze Buch kann man obiges Zitat in Anspruch nehmen: „Das brachte einen natürlich zum Nachdenken.“ Houellebecq hält sich selbst nobel zurück und überlässt es tatsächlich der Leserin bzw. dem Leser, seine Schlüsse zu ziehen. Er hat kein anti-islamisches Pamphlet geschrieben, sondern den Islam als starke und damit attraktive „Weltanschauung“ geschildert.

Michel Houellebecq: Unterwerfung. DuMont Buchverlag Köln, 3. Aufl. 2015. 270 Seiten. Frz. Originaltitel: Soumission. Paris 2015.

Bild: Wolfgang Krisai: Touristin vor der Kathedrale von Cahors, 2014. Buntstift. – 2022 gäbe es keine Touristinnen in Shorts mehr, die einem Zeichner ins Bild laufen könnten, um zu fotografieren, wie mir das im vergangenen Sommer passiert ist…


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