Meta-Komposition, explodierende Sonatensatzformen & Plädoyer für mehr Mahler wagen (Artikelserie – Teil 2)

(…hier gehts zum ersten Teil der Artikelserie…)

Wenn man – so wie ich gerade – aus vier Kompositionen ein Konzert meta-komponiert, dann könnte einem die Aufgabenstellung historisch bekannt vorkommen. Vier abgeschlossene, aufeinanderfolgende musikalische Einheiten, die ein gemeinsames Ganzes bilden… ??? … ?? … RICHTIG!!! Das nannte man früher Sinfonie!

Um Meta-Komposition besser zu verstehen, finde ich es daher sehr interessant, auf die Geschichte der Sinfonieform zu blicken.

Die Sinfonie und die mit ihr verwandten Gattungen – also die Sonate und die viersätzigen Kammermusikformen wie Streichquartett, Klavierquintett etc. – sind von der Frühklassik bis zur Spätromantik den Weg immer größerer Integration gegangen. Anders gesagt: In den Werken der Mannheimer Schule und beim frühen Haydn stehen die einzelnen Sätze weitgehend unverbunden für sich. Mit dem Menuett gibt es sogar noch einen expliziten Tanzsatz, der an die barocke Suite mit ihren lose aneinandergereihten Tanzformen gemahnt. Allenfalls durch die Tonartendisposition – der zweite Satz steht gerne in einer verwandten Tonart, während der dritte und der vierte wieder zur Grundtonart zurückkehren – wird in der frühen Sinfonie eine satzübergreifende Meta-Struktur erahnbar.

Meta-Komposition, explodierende Sonatensatzformen & Plädoyer für mehr Mahler wagen (Artikelserie – Teil 2)

Die Sinfonie als Energieeinheit – Radierung von Franz Plachy

Spätestens mit Beethoven ändert sich das. Er fasst die Sinfonie nicht mehr als Zusammenstellung von vier Sätzen, sondern als Energieeinheit auf. Er entfesselt treibende Kräfte, die über die Satzgrenzen hinweg wirken und etwa in der 5. Sinfonie vom düsteren Schicksals-Moll zum strahlenden C-dur-Finale hinführen.

César Franck hat dieses Konzept im späten 19. Jahrhundert programmatisch überhöht und die „zyklische Form“ postuliert: Alle Sätze sollen in innerem Zusammenhang stehen – nicht nur die Haupt-, sondern auch die Nebenthemen sollen in sämtlichen Sätzen wiederkehren und sich ineinander transformieren. Zwar führt das bei Franck mitunter (vor allem in seinem späten Streichquartett D-dur) zu künstlich-konstruiert und leicht peinlich wirkenden Momenten, doch am prinzipiellen historischen Trend ändert das nichts: Über die viersätzige Struktur legt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Metaebene. Die strukturellen und energetischen Verbindungen über die Satzgrenzen hinweg werden immer bewusster und konsequenter auskomponiert.

Bei Franck (wie auch bei Brahms oder Bruckner) bleibt trotz der inneren Verbindungen die Außenhülle der Form – vier durch Pausen getrennte Sätze – unangetastet.

Andere, um formale Traditionstreue unbekümmertere Komponisten haben die Grenzen weiter eingerissen. Bereits Beethovens 6. Sinfonie hat fünf Sätze, die teils attacca ineinander übergehen. Ebenfalls fünf Sätze hat Berlioz‘ Symphonie fantastique. Bei Mahler wird die Satzanzahl vollends irregulär. Zudem wird es bei ihm zunehmend irrelevant, ob die Sätze attacca ineinander übergehen oder ob einfach ein Einzelsatz für sich allein 45 Minuten in Anspruch nimmt.

Die klaren Formgrenzen zerfließen immer mehr – an die Stelle der klar konturierten Viersätzigkeit treten vielfältige Überblendungen und Querbeziehungen – ein schillernder, mehrdeutig mäandrierender Klangstrom. Exemplarisch sieht man diese Verschiebung in Liszts vielanalysierter h-moll-Sonate – hier wird die viersätzige Struktur von einer Sonatenhauptsatzform überwuchert. D.h. es werden nun Kompositionsprinzipien, mit denen früher ein einzelner Satz gestaltet wurde, auf das viersätzige Werk insgesamt angewendet: der erste Satz entspricht dem Hauptthema, der zweite Satz dem Seitenthema, der dritte der Durchführung etc. Das Ergebnis ist ein ununterbrochenes, quasi einsätziges Werk, in dem die Grenzen der einzelnen Entitäten (Sätze) durch innere und äußere Überformung praktisch komplett verschwinden.

Kehren wir nun aber von diesem sinfonischen Exkurs zur Meta-Komposition eines Konzertabends zurück.

Es bietet sich folgende Analogie an:

  • Ein traditionelles Konzert, dessen vier Programmpunkte durch Applaus und Pausen sauber getrennt sind, entspricht der frühklassischen Sinfonie.
  • Inszenierte Konzerte, wie es sie heute immer häufiger gibt, verschieben die Zeitachse in die Romantik – wenn auch die metakompositorische Ausgestaltung in der Realität des zeitgenössischen Konzertlebens oft noch nicht völlig konsequent ist, und der Zuhörer mitunter ähnlich unbefriedigt zurückbleibt wie nach den konstruiert-künstlichen Themenbezügen in César Francks D-dur-Quartett.
  • SCHWELBRAND betritt nun Lisztsche und Mahlersche Gefilde. Mein Anliegen ist es, die einzelnen Kompositionen so intensiv in eine strukturelle und energetische Gesamtdramaturgie mithineinzunehmen, dass ihre Grenzen fast völlig verschwinden. Dabei will ich die Stücke keineswegs kürzen, zerschneiden oder überblenden – bewahre! Ich will vielmehr einen ununterbrochenen Klangstrom voller Querverbindungen erschaffen, einen strukturell komplexen Ton-Mäander, in dem die Kompositionen schwimmen wie Fische im Wasser, pfeilschnell vorbeischießend oder hektisch zappelnd, eine riesige auskomponierte Dramaturgie, die uns von der ersten Sekunde des Konzerts nahtlos bis zum Schlussapplaus trägt.

Freilich – einen gewichtigen Unterschied gibt es zwischen Liszt und mir. Liszt war – trotz allem – ein atomarer Komponist. Er hat jede Note der vier Einzelsätze, die er durch eine satzübergreifende Sonatenhauptsatzform überformte, selbst komponiert. Er hatte Zugriff auf jedes Detail. Diesen Zugriff habe ich nicht. Denn die Kompositionen von Xenakis, Dragicevic, Grütter, Oswald usw. sind für mich tabu – sie kommen as is.

Wie gehe ich damit um? Und vor allem: Wie kann ich eine (meta)kompositorische Dichte erreichen, die derjenigen einer Mahler-Sinfonie gleicht – obgleich ich nicht die Möglichkeit habe, jeden Ton bei Bedarf zu verändern, sondern vollständige zehnminüte, „vorkomponierte“ Einheiten unverändert übernehmen muss?

Dazu in Kürze im nächsten Beitrag! Oder bald live hören im Konzert: am 14. März 2019, 21h im ASeven-Club am Berliner Alexanderplatz!


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