La Bohème – ein Stummfilm

LA BOHEME
USA 1926
Darsteller: John Gilbert, Lillian Gish, Renée Adorée, Edward Everett Horton, George Hassell, Roy D’Arcy, Karl Dane
Regie: King Vidor
Dauer: 93 min

La Bohème – ein Stummfilm

Wer kennt heute noch den Namen Henri Murger? Die Wenigsten. Dabei hat er 1851 eine Bombe gezündet, deren Auswirkungen bis ins Heute spürbar sind. Gemeint ist sein Roman Les scènes de la vie de bohème. Auch wenn der Titel im ersten Moment nicht geläufig klingt, sobald man ihn auf  La Bohème verkürzt, macht es bei den meisten „klick“.
Genau: Die Oper! Doch für sie kann Murger eigentlich nur indirekt etwas; sie wurde nach seinem Tode geschrieben, von Luigi Illica und Giuseppe Giacose (Libretto) und Giacomo Puccini (Musik); Murgers Geschichte diente den Librettisten als Vorlage.

Ich weiss nicht, ob man heute mit Sicherheit sagen kann, was den oben zitierten „Bomben-Effekt“ ausmacht. Jedenfalls wirkt Murgers Text nach und inspirierte namhafte Künstler (zuletzt den finnischen Filmemacher Aki Kaurismäki) zu eigenen Interpretationen oder zu mehr oder minder deutlichen Kopien. Er gilt heute als Auslöser der europäischen Bohème-Literatur.

Murger beschrieb in Les scènes de la vie de bohème das Leben der „Bohémiens“, einer Gruppe von Künstlern, die der damals als provokant geltenden Lebensführung der Bohème anhing, und sich so vom Bürgertum abwendete und dem Individualisums in der Lebensführung huldigte. Murger, der selbst in der einschlägigen Szene lebte, schildert das Milieu in heiter-friedvollen Farben, als eine Art „Idylle der finanziellen Armut und des geistigen Reichtums“.
Vielleicht ist es dieser Ton, diese elysische Heiterkeit, welche Les scènes de la vie de bohème und sein Milieu bis heute so populär macht?

Wie dem auch sei, auch die Zahl der Verfilmungen zeugt von der ungebrochenen Popularität des Stoffes – imdb.com listet deren 23 (inkl. TV-Fassungen), die neuste stammt von 2009.
Bei den meisten handelt es um Verfilmungen der Oper. Aber nicht bei allen: Ganze fünf davon sind Stummfilme! Da steht notgedrungen die Romanvorlage  im Zentrum.

An dieser Stelle soll – nach langer Vorrede endlich – die Stummfilmversion von 1926 thematisiert werden.
Sie ist seit kurzem auf DVD erhältlich. Zum Glück: King Vidors Verfilmung des Murger-Stoffes ist eine echte Entdeckung, ein Stummfilm, den zu sehen sich lohnt. Seltsamerweise nimmt dessen Titel auf Puccinis Oper Bezug, obwohl es sich klar um eine Verfilmung des Buches handelt; offenbar war die Oper zu jener Zeit so populär, dass man sich von einem Bezug zu ihr mehr Publikum erhoffte.

Die Handlung dürfte bekannt sein, sie spielt im Milieu der Pariser Bohème und beleuchtet dort das Schicksal einer Handvoll brotloser Künstler, in deren Mittelpunkt der angehende Dramatiker Rodolphe (John Gilbert) steht, der sich in die Näherin Mimi (Lillian Gish) verliebt – eine Liebesgeschichte, die, wie man vielleicht weiss, mit dem Tuberkolosetod der Heldin tragisch endet.

Das Drehbuch des Franzosen Fred De Gressac weist keine tote Stelle auf, und King Vidors Regie setzt die Vorlage elegant in herrliche Bilder von lyrischem Charme um. Die Schauspielertruppe ist hervorragend, allen voran die filigran-zerbrechliche Lillian Gish. Ihr emotionsgeladenes Spiel geht zu Herzen, statt auf die Nerven. Will sagen: Nur wenige Schauspiereinnen jener Zeit konnten so dick auftragen und trotzdem derart wahrhaftig und „echt“ bleiben. Man nimmt ihr alles ab, die Trauer, die Freude und das Leiden – vor allem das. Es ist, als zeige sich hier das Leid an sich auf der Leinwand. Wie sie das ohne penetrantes Pathos meistert, ist mir ein Rätsel. Vielleicht hat es mit ihrem kindlichen Charme zu tun, der in jedem ihrer Filme aufscheint. Ihr Spiel ist wie das eines Kindes: offen und ehrlich. Und damit ist sie wohl die Idealbesetzung für diese Rolle.

Allerdings soll sich der damalige Superstar Lillian Gish keineswegs kindlich und charmant verhalten haben: Sie war derart berühmt und begehrt, dass sie sich die Regisseure und Co-Stars für ihre Filme selbst aussuchen konnte. Damit ging offenbar auch eine gewisse Arroganz einher. Am Set von La Bohème soll sie sich jedenfalls nicht besonders zimperlich verhalten haben; zu John Gilbert, der damals am Beginn seines Starruhmes stand, muss sie ziemlich grob gewesen sein. Sie konnte es sich erlauben, war die zerbrechlich wirkende kleine Frau doch der erste Superstar der US-Filmgeschichte.

Neben ihrer Schaupielkunst hat John Gilbert im Film einen schweren Stand. Auch er ist brilliant, aber er stemmt seine Rolle sichtlich, er muss sich für ihre Glaubhaftigkeit sichtlich anstrengen – während bei Gish alles in natürlichem Fluss zu sein scheint. Ein paar Mal rutscht Gilbert ab ins Pathos, das bei ihm für meinen Geschmack gerade noch erträglich bleibt.
Auch der Rest der Truppe ist hervorragend. Unter ihnen: ein noch sehr junger, in seinen Manierismen aber bereits unverkennbarer Edward Everett Horton.

Zudem haben Ausstatter und Kulissenbauer hervorragende Arbeit geleistet: Alt-Paris, wie es da im Film erscheint, besitzt jenen romantisch verklärten Zauber, jenen verwinkelten Charme, den man mit der Bohème in Verbindung bringt.

Tragisches Detail am Rand: Die französische Schauspielerin Renée Adorée, die Darstellerin der Musette, welche der toten Mimi am Schluss die Augen schliesst, starb nur sieben Jahre nach Beendigung der Dreharbeiten – an Tuberkolose – während die Gish, die Dutzende von Filmtode starb, über 90 Jahre alt wurde.

Fazit: La Bohème ist ein atmosphärisch sehr dichter, mitreissender, bisweilen ergreifender Film, der aber immer wieder durch komödiantische Tupfer aufgehellt wird. Eine lohnende Entdeckung!
Michael

La Bohème – ein Stummfilm

La Bohème – ein Stummfilm

La Bohème – ein Stummfilm

La Bohème – ein Stummfilm

La Bohème – ein Stummfilm

La Bohème – ein Stummfilm

La Bohème – ein Stummfilm

La Bohème – ein Stummfilm

Die DVD: Die Bildqualität ist sehr gut, das Bild ist recht scharf und klar, mit zumeist sehr guten Kontrasten.

Die Musikbegleitung ist leider anonym. Dabei ist nicht klar, ob die Erwähnung des Komponisten vom Hersteller einfach vergessen wurde.  Es handelt sich um eine moderne Einspielung mit Klavier und Cello. Sie ist schlichtweg hervorragend und verleiht besonders den heiteren Stellen des Films eine zusätzliche Dimension von Schwerelosigkeit und Zartheit. Wunderbar: Genau so wünsche ich mir eine Stummfilmbegleitung!

Reginalcode: 0

Bestellung : Der Film stammt aus dem DVD-R Sortiment von Warner Archive Classics. Eine der wenigen Möglichkeiten, ihn nach Europa zu bestellen bietet Turner Classics . Es lohnt sich auch, mal bei DeepDiscount reinzuschauen; im Moment ist er dort nicht erhältlich, da ich ihn aber erst vor Kurzem dort gekauft hatte, wird er wohl nur temporär aus dem Sortiment genommen worden sein.
Für Preisvergleiche, evtl. preisgünstigere Angebote und andere Fragen im Zusammenhang mit DVD-Bestellungen aus dem Ausland siehe auch die Tipps zur DVD-Bestellung im Ausland.

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