Krieg und Zerstörung für Demokratie

Es war einmal ein vergleichsweise kleines Land in Nordafrika, das große Öl- und Gasvorräte besaß, aber nur etwa sechs Millionen Einwohner hatte. Im Jahre 2010 erreichte es als einziges afrikanisches Land den Status “hohe Entwicklung” im
Human Development Index.

Das ebenfalls sehr öl- und gasreiche Saudi-Arabien lag zwei Positionen schlechter, was in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass die (übrigens auch völlig undemokratischen) Golf-Monarchen den gesellschaftlichen Reichtum ihres Landes lieber selbst behalten und für vergoldete Rolls-Royce-Limusinen oder neue Kampfpanzer Made in Germany ausgeben und nicht öffentlich verteilen.

Anders der verrückte Machthaber in Libyen, der in seinem Reich eine Art autoritären Realsozialismus einführte. Im Jahr 1969, als die aufständischen Offiziere um Oberst Gaddafi den libyschen König stürzten, gab es im gesamten Land sieben Ärzte. 2010 gab es einen flächendeckende und funktionierende Gesundheitsversorgung für alle, die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 74 Jahren.

Kriminalität existierte praktisch gar nicht – was natürlich auch als positiver Nebeneffekt eines paranoiden Kontrollstaates gewertet werden kann, hier jedoch in erster Linie daran gelegen haben dürfte, dass es nun mal keinen Anreiz gibt, kriminell zu werden, wenn jeder mit überschaubaren Aufwand genug zum Leben hat. Libyen definierte sich seit 1977 als sozialistisches Land – den größten Teil der Einnahmen aus den Energieexporten investierte die leider undemokratische, aber sonst sehr um ihre Bürger besorgte libysche Regierung in Dienstleistungen, die allen Bürgerinnen und Bürgern zugute kamen.

Auf 100 Einwohner kam im letzten Jahr der Herrschaft von Muammar al-Gaddafi etwa 180 Mobilfunkverträge – mobile Kommunikation für jedermann – das konnten und wollten sich die Libyer auch leisten. Die Alphabetisierungsquote lag bei 90 Prozent – höher liegt sie hierzulande wenn man ehrlich ist auch nicht, auch wenn alle für mindestens neun Jahre zur Schule gehen müssen. Libyen hatte ein kostenloses Schulsystem aufgebaut, in dem 93 Prozent der Kinder und Jugendlichen immerhin die Sekundarstufe besuchten. Mehr als die Hälfte der libyschen Jugendlichen absolvierte einen dritten Ausbildungsgang, in der Regel an einer Hochschule. Frauen erreichten deutlich häufiger einen entsprechenden Abschluss als Männer – bemerkenswert für eine eigentlich konservative muslimische Gesellschaft.

Das außerordentlich hohe Bildungsniveau bei Frauen trug zu einer entsprechend selbständigen Familienplanung bei. Im Jahr 2010 hatte eine Frau in Libyen durchschnittlich 2,4 Kinder. Der Anteil von Frauen bei der offiziell erwerbstätigen Bevölkerung lag bei fast 30 Prozent – ein Wert, der in anderen muslimischen Gesellschaften völlig außerhalb des Vorstellbaren liegt. Kurz und gut, eigentlich war Libyen ein Land, in dem es sich angenehm leben ließ – mit einem Haken: Es gab keine freien Wahlen, also keine Demokratie. Nun könnte man ja auf die Idee kommen, dass Demokratie nicht so wichtig sei, wenn es den Leuten sonst gut geht. Es gibt schließlich auch eine Menge demokratische Länder, in denen es den Leuten deutlich schlechter geht als in Libyen – ich sag nur Indien, Griechenland, ja, genaugenommen geht es vielen Menschen in Deutschland oder den USA schlechter als einem durchschnittlichen Libyer unter der Gadaffi-Diktatur.

Und so könnte man ja mal auf die Idee kommen, dass Demokratie allein niemanden glücklich macht – das tut sie auch gar nicht. Im Gegenteil: Man zwingt die Leute nur dazu, sich ihre Herrscher selbst auszusuchen, so dass sie sich am Ende nicht beschweren können, wenn es ihnen schlecht geht: Sie haben sich ihre Regierung ja selbst ausgesucht.

Zurück nach Libyen: Im März 2011 startete der Westen eine internationale militärische Intervention. Innerhalb eines halben Jahres war der komplette libysche Sozialstaat zerstört und das Land stürzte in einen Bürgerkrieg, der noch immer andauert. Das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen, die Schulen sind geschlossen, die Versorgung mit Wasser und Strom funktioniert oft nicht und die Telekommunikationssysteme brechen ständig zusammen. Staatliche Angestellte bekommen keine Löhne mehr, was noch funktioniert, wird mit freiwilliger Arbeit aufrecht erhalten.

Das Leben in Libyen ist gefährlich geworden, verschiedene Milizen bekämpfen sich und üben in ihren Einflussbereichen eine Terrorherschaft aus, in der Morde, Entführungen und Verbrechen aller Art zum Alltag gehören. Die Terroristen vom Islamischen Staat bringen immer weitere Teile des Lands unter ihre Kontrolle – und was das heißt, wissen wir ja schon aus Syrien und dem Irak. Es ist also alles, wirklich alles schlechter geworden in Libyen – und das alles angeblich nur, um den Libyern die Segnungen der Demokratie zu bringen. Inzwischen wäre es vermutlich nicht nur den Libyern, sondern auch den interventionistischen Westlern lieber, statt des herrschenden Chaos den guten, alten Gadaffi wieder zu bekommen, aber den musste man ja dummerweise auch noch umbringen lassen.

In Syrien gäbe es immerhin eine Chance: Assad ist noch da. Hier hat der Westen noch die Chance, sein Scheitern einzugestehen, und die eigene Haltung zu revidieren: Wenn man sich schon einmischen will, muss man jetzt Assad gegen die Dschidisten unterstützen und ihm dabei helfen, den Bürgerkrieg in Syrien zu beenden. Auch hier sind schon Millionen Menschen umgekommen und noch mehr auf der Flucht. Eigentlich hätten die USA aus dem Irak schon lernen können, dass mit dem Sturz von Diktatoren nicht mal eben neue – am besten an westlichen Vorstellungen ausgerichtete -politische Ordnung erreicht, sondern Chaos und Gewalt. Im Irak unter Saddam Hussein waren die Zustände zwar nicht so paradiesisch wie in Libyen, aber sehr viel besser als heute.

Insofern kann man als Grundlektion aus dieser Bestandsaufnahme erstmal lernen, dass es dem Westen bei seinen Interventionen offenbar nicht darum gehen kann, das Leben für die Leute angenehmer zu machen: Es geht darum, Regierungen zu stürzen, die ihr eigenes Ding machen und ihr Land nicht nach den Vorstellungen der kapitalistischen Supermacht USA und ihrer europäischen Verbündeten zur Ausbeutung durch die globale Wirtschaft freigeben, ganz nach dem alten Motto lieber tot als rot.



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