Keine Kinder von Traurigkeit

Eine kurze Abhandlung über die Verramschung der Trauerkultur.
Immer dann, wenn jemand »mediengerecht« verstirbt, so wie die junge Frau in Offenbach neulich, flutet eine Welle des Tourismus über den Ort des Unglücks. Horden von Event-Trauernden laufen auf, moderne Klageweiber, die ihre Trauer oder das, was sie dafür halten, in die Objektive recken. Sie drapieren Kerzchen ins Rampenlicht, staffieren die Lücken innerhalb des Flammenteiches mit gut leserlich bereitgestellten Briefchen aus, liegen sich für RTL und ARD sachgerecht heulend in den Armen. Dem Verstorbenen völlig unbekannte Zeitgenossen lallen mit verheulter Front in die Kamera, rotzen ihre Betroffenheit in die Öffentlichkeit, bis sie forteilen, weil sich irgendwo eine neue traurige Popshow auftut.

Keine Kinder von Traurigkeit

Quelle: ddp

Die westliche Gesellschaft hat eine Trauerkultur entwickelt, die diesen Namen nicht verdient. Weder ist sie kulturbeflissen, noch befriedigt sie das klassische Trauerrepertoire. Der Tod eines Menschen, der im öffentlichen Interesse, medienwirksam verstorben ist, verendet im Event, wird zum Antrieb der Trauer- und Betroffenheitsindustrie. Schniefende Jammergestalten betreten die Bühne, Reporter analysieren, was meist nicht zu anaylsieren ist, fragen gedankenschwanger nach dem Warum und Wieso, nur um zur Erkenntnis zu gelangen, dass man darauf wohl keine Antwort finden werde. Obligatorische Pressekonferenzen treten die Traurigkeit des Moments noch einmal breit, nur um festzuhalten: »Es war so sinnlos.«Antworten gibt es jedoch weiterhin keine, denn die Antwortfindung braucht in solchen Momenten viel Zeit und noch viel mehr Besonnenheit.

Mit der ist es allerdings zuweilen schwierig. Das ist im aktuellen Fall gut zu erkennen. Der Mob vermengt in den sozialen Netzwerken »seine Trauer« mit Pogromstimmung. Man teilt Bilder von dem Mann, der die junge Frau zunächst ins Koma beförderte. »Das ist der wichser [...] Jeder soll seine fresse seh von diesem Mörder... Verrecken soll er«, steht drunter. Die Lynchlaune schaukelt sich hoch. Man diskutiert über die Todesstrafe und über kriminelle Ausländer in Deutschland. All das, während man Anteilnahme säuselt und digitale Kerzen entzündet. Während man das Versprechen vernimmt, den Verstorbenen nie zu vergessen, seiner zu gedenken. Lippenbekenntnisse, denn nichts ist so gewiss wie das Vergessen.
Bei allem nötigen Respekt. Im aktuellen Fall ist nichts sicher. Zeugen waren schwer aufzutreiben. Ihre Aussagen dürften zweifelhaft sein. Auch sie haben das Treiben der Medien verfolgt und ob ihre Aussage das ist, was sie erlebten oder das, was sie lasen, kann keiner beantworten. Kamerabilder geben keine Auskunft über das Motiv und das Hergehen vor der Tat. Man weiß so wenig. War es Zivilcourage? Vielleicht. Aber die digitalen und wirklichen Trauertouristen wollen nicht abwarten. Sie haben die Legende gestrickt, dass es so war. Punkt. Her mit dem Bundesverdienstkreuz! Vielleicht ist die junge Frau dem Kerl wirklich in die Parade gefahren. Vielleicht auch nicht. Möglicherweise war das ihr erster zivilcouragierter Einsatz. Sie hat ihn bitter bezahlt. Ist aber dann das erste Widerwort gegen das Unrecht schon Preise und Medaillen wert? Andere basteln ein Leben lang daran und bekommen keine Anerkennung. Wenn sich Betroffenheitsevent mit Gesellschaftskritik vermischt, dann kommt alles an Unbedachtheit, Übertreibung und Nachschusslorbeeren zusammen, was man sich so denken kann.
Ist das respektlos, wenn man das jetzt aufs Tapet bringt? Möglicherweise. Aber das, was als Trauerkultur den öffentlichen Äther füllt, ist die viel unbeschreiblichere Respektlosigkeit gegenüber den jeweils Verstorbenen. Denn der Moment der Trauer wird mit Spektakel erfüllt, das Bedürfnis nach Ruhe und innerer Einkehr wird lauthals übertüncht. Statt sich zurückzunehmen, den wirklichen Trauernden, denjenigen, die dem Verstorbenen persönlich nahestanden, die notwendige Stille zu gewähren, bricht die kollektive Selbstdarstellung aus. Ob Reporter oder Funktionär, ob Privatperson vor Ort oder in weiten Fernen, jeder hat eine Meinung, ein übriges Tränchen, einen Trostspruch, ein bisschen Grabesmiene übrig.
Es wirkt, als würden in sozial kühlen Zeiten, in denen normalerweise der Mensch wenig bis gar nichts zählt, genau solche Momente dazu auserkoren, sich in »Mitmenschlichkeit« zu suhlen. Scheinbar kurzfristig aufkeimendes Zusammenstehen, diese Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Open Air- und Klick-mich-Trauer, des Spektakel-Heulens, Pressekonferenzen bei denen der Trauertourist von der Straße mit dem hohen Vieh hinter dem Mikrofon auf einer Augenhöhe dasselbe Interesse aufweist - es wirkt wie eine Resozialisierung des sozialen Gedankens. Die kollektive Trauerunkultur vereint die Trauergesellschaft, erzeugt ein Gefühl von sozialer Wärme, kompensiert für einen klitzekleinen Moment die gesellschaftliche Eiszeit. Und wenn dann auch noch ein Tatverdächtiger dazukommt, gedeiht dieses Zusammenstehen zu einem Surrogat für bürgerschaftliches Engagement und den Kampf gegen Brutalität. In einem solchen Klima ist auch das Lynchen etwas, wofür man als aufgeklärter Mensch plötzlich Verständnis aufzubringen hat, wenn man kein Außenseiter sein will.
Es ist dieser einfältige Brei, dieses Granatfeuer mit immer denselben Floskeln, mit denselben Trauervisagen, die von werweißwoher heranpilgern, um dem Verstorbenen ihre Zettelchen mit notierten Kalenderweisheiten zur letzten Ruhe zu reichen, die das Ableben zum peinlichen letzten Akt des irdischen Daseins werden lassen. Es ist immer wieder dasselbe lächerliche Szenario, das man um eine Tragödie streut. Instinktloses und unangebrachtes Mitwirkenwollen, Selbstdarstellung in Reinkultur, Dabeiseinwollen zum Erzählenkönnen. Der Tod und der Totschlag als Massenspektakel, eigentlich unbeteiligte Menschen als blamable und unangebrachte Kummervolle, die das Fremdschämen zum Dogma trister Stunden krönen. Mit Trauerkultur hat das jedenfalls alles nichts zu tun.
Man könnte annehmen, eine Gesellschaft, in der rege Anteilnahme an öffentlichen Unglücksfällen stattfindet, sei eine liebevolle Gesellschaft. Tatsächlich scheint aber das Gegenteil richtig zu sein. Dort wo Wildfremde scheintrauern, so als ob sie Teil der unmittelbaren Hinterbliebenengemeinde seien, scheint sich die soziale Kälte, das eigentliche und alltägliche Gesellschaftsprogramm, vage zu kompensieren. Da findet man sein Plätzchen unter im Augenblick Gleichgesinnten. Endlich eine Heimstatt, endlich ein wenig zwischenmenschliche Wärme! Und es wird sich lasziv gewärmt, wird leidenschaftlich getrauert, ein heimeliges Trauergerassel inszeniert, die Sehnsucht nach verbrüderten Menschen am Leben gehalten. Trauer all inclusive!
Morgen schon ist alles vergessen und man kehrt in den Alltag zurück. Wartet ab. Wartet, bis es wieder so weit ist, dass man zusammenstehen kann. Geeint in einer Traurigkeit, die sich hochschaukelt und die Wut und Hass neben Tränen und Tristesse gebiert und die nichts ist, als blanke Gier nach Anerkennung und Interaktion. Kinder von Traurigkeit sind die wenigsten aus dieser Karawane.
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