Historische Kulturwissenschaften: Positionen und Perspektiven

WEIMAR. (fgw) Bereits im November 2007 hat an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz eine Konferenz statt­ge­fun­den zur begriff­li­chen Verständigung dar­über, was Kultur, was Kulturwissenschaft im Gegensatz zu Kulturwissenschaften ist. Vor allem ging es darum, was denn das weite Feld der “Historischen Kulturwissenschaften” alles umfas­sen würde.

Historische Kulturwissenschaften: Positionen und PerspektivenDiese Konferenz wird unter Einbeziehung der wei­ter­ge­gan­ge­nen Diskussion in Band 1 der Reihe “Mainzer Historische Kulturwissenschaften” doku­men­tiert, erschie­nen im Jahre 2010. Die Reihe soll alter­tums­kund­li­che, kunst- und bild­wis­sen­schaft­li­che, phi­lo­so­phi­sche, lite­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che und his­to­ri­sche Forschungsansätze zusam­men­füh­ren. Sie soll außer­dem für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der poli­ti­schen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie ande­ren historisch-kulturwissenschaftlichen Forschungsfeldern offen sein.

Doch zurück zur Konferenz von 2007. Alle Beiträge dort kreis­ten dort um die noch offene Frage, ob his­to­ri­sche Kulturwissenschaften eine Integrationswissenschaft wer­den könne.

Einführend dis­ku­tiert Dieter Teichert das Potential his­to­ri­scher Kulturwissenschaften: Erklären und Verstehen – Historische Kulturwissenschaften nach dem Methodendualismus: “Ist im Grunde nicht alles ganz ein­fach? Kulturwissenschaft, das ist die wis­sen­schaft­li­che, d.h. Methodisch abge­si­cherte Weise der Untersuchung, Beschreibung und Erklärung der Kultur. Kultur, das ist das Medium, in dem Medium als Menschen und als Mitglieder von Kollektiven ihr Leben leben. (…) Kultur ent­wi­ckelt sich. (…) Das Faktum der Entwicklung von Kultur begrün­det die Tiefe und nicht auf­lös­bare Verbindung zwi­schen dem Unternehmen der Kulturwissenschaft und der Geschichte. Kulturwissenschaft ist his­to­ri­sche Kulturwissenschaft. Denn Kultur, das ist der Inbegriff der geschicht­lich varia­blen Formen des Sprechens, Denkens, Handelns, Empfindens, Kommunizierens, Arbeitens und Gestaltens der Menschen.” (S.13) Ausgehend davon stellt Teichert Über­le­gun­gen an zu einer pole­mi­schen Skizze der gegen­wär­ti­gen Situation der Kulturwissenschaft in Deutschland. Leider kom­men hier frühe Ansätze von DDR-sozialisierten Kulturwissenschaftlern nicht vor.

Dem schließt sich ein Beitrag zum Thema “Historische Kulturwissenschaft als wis­sen­schaft­li­che Leitdisziplin von Manfred K.H. Eggert an: Die Vergangenheit im Spiegel der Gegenwart – Über­le­gun­gen zu einer Historischen Kulturwissenschaft. Ein Mangel bei Eggert: Seine Sicht auf die Ur- und Frühgeschichte, Alte, Mittlere und Neuere Geschichte ist ein­sei­tig euro­zen­tris­tisch ein­ge­engt.

Der wohl qua­li­ta­tivste und pra­xis­be­zo­genste Aufsatz stammt aus der Feder von Lutz Musner, mit sei­nem Plädoyer für eine Wirksam-Machung der sozia­len Dimension als Grundlage einer his­to­ri­schen Kulturwissenschaft: Jenseits von Dispositiv und Diskurs – Historische Kulturwissenschaften als Wiederentdeckung des Sozialen. Kritisch schreibt er zur vor­han­de­nen Entzweiung von Kultur und Gesellschaft: “Ein enges kul­tu­ra­lis­ti­sches Denken, wel­ches gesell­schaft­li­che Sachverhalte mar­gi­na­li­siert und die sym­bo­li­sche Sphäre (…) als auto­no­men Bereich der Interreferentialität und der Intermedialität über­be­tont, sus­pen­diert den Kosmos kom­ple­xer sozia­ler Rahmungen und anthro­po­lo­gi­scher Dispositionen der Menschen zuguns­ten einer sub­jek­ti­vis­ti­schen Perspektive. Einer Perspektive näm­lich, in der Menschen auf Identitäts-, Sprach- und Performanzeffekte redu­ziert wer­den. (…) Kulturalismus (…) impli­ziert die weit­ge­hende Abkehr von Fragen sozia­ler Lebensverhältnisse und wirt­schaft­li­cher Herrschaftsverhältnisse.” (S.69) Musner bringt das so auf den Punkt: “Kultur wird [durch eine kul­tu­ra­lis­ti­sche Betrachtungsweise, SRK] als Phänomen ver­han­delt, das sich abseits bon Gesellschaft aus­for­mu­liert oder gar der Gesellschaft ent­ge­gen­ge­setzt ist.” (S.71) Weiter merkt er an: “Die (…) Illusion den­ke­ri­scher Freiheit führt all­zu­leicht dazu, ‘Kultur’ unab­hän­gig von mate­ri­el­len Verhältnissen, von sozia­len Machtstrukturen und ökono­mi­schen Voraussetzungen zu kon­zep­tua­li­sie­ren. So gerät aber aus dem Blick, daß sich gerade auch im Symbolischen die Kämpfe der sozia­len Welt, die Siege und die Niederlagen der sozia­len Schichten und die real­po­li­ti­schen Verhältnisse von Macht und Ohnmacht geschichts­prä­gend ein­schrei­ben.” (S. 73)

In die­sem Beitrag des Öster­rei­chers Musner dürf­ten sich gestan­dene Kulturwissenschaftler aus DDR-Zeiten wie­der­fin­den…

Diesen ein­füh­ren­den Beiträgen schlie­ßen sich Aufsätze “dis­zi­pli­nä­rer Über­set­zun­gen” an. Hervorzuheben sind hier ins­be­son­dere: “Dimensionen des Kulturbegriffs” (Andreas Hütig); “Kulturalität der Philosophie” (Andreas Cesana); “Erfahrungsgeschichte und die ‘Quelle’ Litaratur” (Barbara Korte); “Kulturtransfer als Beobachtungsfeld his­to­ri­scher Kulturwissenschaft” (Jan Kusber); “Der ana­to­mi­sche Blick in der isla­mi­schen Medizingeschichte” (Rainer Brömer); “Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit – Eine his­to­ri­sche Kulturwissenschaft par excel­lence?” (Rainer Schreg) sowie “Über­le­gun­gen zur Konzeptualisierung der Begriffe Landschaft und Geschichte im inter­kul­tu­rel­len Kontext” (Philipp Kersting). Kerstings Beitrag spe­zi­ell zu Rwanda, räumt deut­lichst mit kolo­ni­al­herr­li­chen, inkom­pe­ten­ten und igno­ran­ten Sichtweisen auf fremde Kulturräume auf.

Besonders her­vor­zu­he­ben ist aus Sicht des Rezensenten Christine Kleinjungs Beitrag “Wie wird poli­ti­sche Ordnung gemacht? – Erstellen, Tradieren und Anwenden von Wissensbeständen in Westfranken”. Ausgangspunkt bei ihr sind die Krönung und Weihe Karls des Kahlen im Jahre 869 zum König von Lothringen. Sie weist nach, wel­che Erkenntnismöglichkeiten sich erge­ben, wenn man tra­dierte Texte nicht juris­ti­schen oder reli­giö­sen Kategorien trennt, son­dern sie zusam­men liest. Das ver­deut­licht sie anhand der soge­nann­ten “west­frän­ki­schen Reichsannalen” aus der Feder des Bischofs Hinkmar von Reims. Sie schreibt u.a.: “Diese Umdeutung der Chlodwigstaufe in eine Krönungssalbung ist Hinkmars Werk und wurde zur Geltungsgeschichte des karolingisch-westfränkischen und kapetingisch-französischen Königtums, obwohl es Hinkmar weni­ger um die Erhöhung des west­frän­ki­schen Königtums ging, son­dern vor allem um die Kompetenzen des Bischofs und die her­aus­ge­ho­bene Stellung der Reimser Kirche.” (S. 250) Weiter heißt es bei ihr: “Diese Verwendung einer eigens geschaf­fe­nen Vergangenheit und das Festhalten des Wissens dar­über bewirk­ten, daß der Gebrauch der ‘nütz­li­chen Vergangenheit’ selbst zur his­to­ri­schen Wahrheit wurde. Hinkmar hat mit Absicht eine Tradition erfun­den.” (S. 251)

Eine schlechte Tradition, die bis heute lei­der nichts an ihrer Verwendung ein­ge­büßt hat…

Zum Anliegen der Reihe heißt es beim Herausgeber Jan Kusber: “Im Erfolgsfall wäre (…) eine Kulturwissenschaft eta­bliert, die sich fächer-, epochen- und raum­über­grei­fend mit der Über­set­zung sozia­ler, ökono­mi­scher und poli­ti­scher (recht­li­cher) Verhältnisse (Strukturen) in kul­tu­relle Formationen und deren jewei­lige kon­krete Ausprägungen in Lebenswelten his­to­ri­scher Akteure beschäf­tigt. Auf diese Weise gewin­nen die his­to­ri­schen Kulturwissenschaften Bedeutung für die Gegenwart.” (S. 375)

Dem ist nichts hin­zu­zu­fü­gen, dem kann nur beige­pflich­tet wer­den. Es bleibt daher zu hof­fen, daß dem Mainzer Forschungsschwerpunkt und sei­ner Publikationsreihe Erfolg beschie­den ist.

Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.): Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven. Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften Bd.1 386 S. kart. Transcript Verlag Bielefeld 2010. 29,80 Euro. ISBN 978-3-8376-1441-1

[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]


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