Heißt “nee” wirklich “nein”?

In den Niederlanden haben sich rund 60 % der Menschen, die am gestrigen Referendum teilnahmen, gegen das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine ausgesprochen. Die Wahlbeteiligung lag bei schlappen 32 %. Und doch kommt dieser Abstimmung eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Um die verworrene Situation nach dem Votum zu verstehen, muss man die Geschehnisse aus drei Blickwinkeln betrachten: aus verfassungs- und europarechtlicher Sicht, aus Sicht des Zustandes der EU selbst und im Bezug auf die Folgen für die niederländische Innenpolitik.

Seit ungefähr einem Jahr gibt es in den Niederlanden die Möglichkeit eines konsultativen Referendums. Wer es schafft, 300.000 Unterschriften zu sammeln, kann über jedes vom Parlament beschlossene Gesetz abstimmen lassen. Allerdings ist das Referendum nur gültig bei einer Wahlbeteiligung von 30 % der Stimmberechtigten, und es hat keine rechtlich bindende Wirkung. Trotzdem kann sich eine amtierende Regierung einem Ergebnis kaum entgegenstellen, wenn die Wahlbeteiligung hoch genug und dieses Ergebnis deutlich ist. Eigentlich war das Instrument des Referendums dazu gedacht, das Vertrauen der Niederländer in ihre politischen Vertreter zu stärken und das Volk mehr an der Willensbildung zu beteiligen, sozusagen eine vertrauensbildende Maßnahme. Doch sofort wurde es von den Rechtspopulisten für ihre Zwecke vereinnahmt. Ganz offen gaben sie zu, dass es ihnen nicht um das Assoziierungsabkommen ging, sondern darum, der mächtigen EU eins auszuwischen. Das ist ihnen, vermutlich mit etwas weniger als 2 Millionen Stimmen, auch gelungen. Diese zwei Millionen haben ein Vertragswerk zumindest vorerst gestoppt, das von den Parlamenten aller anderen beteiligten Staaten, insgesamt einer Bevölkerung von mehr als 500 Millionen Menschen, schon ratifiziert worden war. Die Sieger dieser Volksabstimmung nannten dies einen Sieg der Demokratie. Dabei zwingt offenbar eine kleine Minderheit, weniger als ein fünftel der Wahlberechtigten eines kleinen europäischen Landes, einer überwältigenden Mehrheit ihren Willen auf. Meine Vorstellung von Demokratie ist eine Andere.

I.

Ob die Abstimmung in den Niederlanden den Assoziierungsvertrag mit der Ukraine wirklich stoppt, ist dabei noch längst nicht entschieden. Der Vertrag wurde zwischen der Ukraine, der EU und ihren 27 Mitgliedsstaaten geschlossen. Die meisten der Bestimmungen werden durch Europarecht geregelt und sind daher der nationalen Entscheidungskompetenz entzogen. In diesen Fällen ist die EU der Vertragspartner der Ukraine. Andere Bestimmungen betreffen die Gesetzgebungskompetenz der einzelnen Länder, in diesen Fällen sind die Länder selbst Vertragspartner. Die niederländische Regierung hätte nun die Möglichkeit, ihre Zustimmung zum Vertrag als Vertretung der Niederlande zu verweigern. Damit wäre sie zwar kein Vertragspartner, doch als Mitglied der EU, das an europarechtliche Bestimmungen gebunden ist, würden die meisten Bestimmungen des Vertrages auch für die Niederlande gelten. Es müsste dann ein Zusatz zum Vertrag erarbeitet werden, ein Ergänzungsprotokoll, durch das festgelegt wird, dass bestimmte Vorschriften eben nicht für die Niederlande gelten. Da es sich hier aus Sicht der EU um Angelegenheiten von recht geringfügiger Bedeutung handelt, könnten die anderen Staaten vermutlich damit leben. Allerdings müssten die Niederlande bei der Ratifizierung im europäischen Rat, der das Vertragswerk für die EU verabschiedet, mit Ja stimmen, um die notwendige Einstimmigkeit herzustellen. Es dürfte den Wählern zuhause kaum zu vermitteln sein, dass man zwar, als Ergebnis des Referendums den Vertrag nicht selbst ratifiziert, beim europäischen Rat aber mit ja stimmt. Die aufgebrachten und populistisch beeinflussten Wähler, die sich nicht mit den Feinheiten des Europarechts befassen können oder wollen, werden ein solches Abstimmungsverhalten als Verrat interpretieren, um den Vertrag durch die Hintertür doch noch durchzuwinken. Dabei wird auch die Argumentation nicht helfen, dass man in diesem Falle ja nur den Willen des demokratisch gewählten europäischen Parlaments umsetzt, das dem Vertrag bereits zugestimmt hat. Demokratie ist für die Populisten eben nur dann Demokratie, wenn es nach ihrem Willen geht.

II.

Für die europäische Union ist die Ablehnung des Vertragswerks ein schwerer Schlag. In nahezu allen europäischen Ländern gibt es eine sehr starke populistische Strömung, die eine Zusammenarbeit auf EU-Ebene nahezu unmöglich macht. Jetzt rächen sich die Fehler der Vergangenheit, als man die EU nur als Wirtschaftsprojekt betrachtete und vergaß, die europäischen Bürger mitzunehmen und ein Europagefühl zu wecken. Das Ergebnis der Abstimmung in den Niederlanden könnte den Befürwortern eines britischen Ausstiegs Auftrieb geben. In Großbritannien wird im Juni über den Verbleib in der EU abgestimmt. Nun ist die Union schon jetzt häufig ein Selbstbedienungsladen für nationale Interessen, und das wird nach dem möglichen britischen Ausstieg noch mehr der Fall sein. Verlassen die Briten aber die Union, dann ist ein Zerfall der Gemeinschaft durchaus möglich. Der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders jubelte nach dem Erdrutschsieg bei der Abstimmung, dass dies der Anfang vom Ende der EU sei. Da könnte etwas wahres dran sein. Die Euroskeptiker haben in den meisten Ländern die Mehrheit, und in vielen Ländern Osteuropas hapert es deutlich an einer Zustimmung zu den sogenannten europäischen Werten wie Menschenrechte, wirtschaftliche Freiheit und soziale Sicherheit. Die EU muss erkennen, dass neu aufgenommene Länder nicht allein durch den Beitritt schon zu demokratischen, menschenrechtsorientierten und solidarischen Staaten werden, das zeigt die Flüchtlingsproblematik überdeutlich. Da die nationalen Interessen der einzelnen EU-Länder immer noch Vorrang vor einem gesamteuropäischen politischen Interesse haben, braucht man für wichtige Entscheidungen in der EU die Einstimmigkeit. Im Falle der Niederlande konnte diese Einstimmigkeit durch ein fünftel der Wahlberechtigten gekippt werden.

III.

Das hat auch mit der schwierigen und verwickelten innenpolitischen Situation im kleinen Königreich von Maas und Waal zu tun. In einem Jahr sind dort Parlamentswahlen. Die meisten Parteien, die sich für das
Assoziierungsabkommen aussprachen, hielten sich während der Campagne für das Referendum zurück. Sie fürchteten nämlich, nach den Wahlen die Mehrheit für eine Regierung jenseits populistischer Parteien vollkommen zu verlieren. Die sogenannte große Koalition aus Rechtsliberalen und Sozialdemokraten könnte nach aktuellen Umfragen auf keinen Fall weiterregieren, die Sozialdemokraten würden vermutlich unter 10 % der Stimmen sacken. Dies ist ein Teil der allgemeinen europäischen Entwicklung, bei der die Sozialdemokraten durch ihre wirtschaftsfreundliche Neuorientierung ihre alte Klientel und ihren Daseinszweck verlieren. Fast alle sogenannten etablierten Parteien haben die Angst, vom populistischen Volkszorn bald hinweggefegt zu werden. Nur die linksliberale Partei D66, die derzeit in der Opposition ist, hat ganz offen für das Assoziierungsabkommen geworben und ist auf die Straße gegangen. Sie stellte sich bei den Europabefürwortern damit gut auf und hat Chancen, ihren Stimmanteil bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr erheblich zu verbessern. Schon jetzt ist aber klar, dass die Sieger die Rechtspopulisten und die Sozialisten sein werden, und dass die gemäßigten Parteien vermutlich nicht einmal mehr in einer Riesenkoalition stark genug sein werden, einen Ministerpräsidenten Wilders zu verhindern. Durch ihre Zurückhaltung beim Referendum erhofften die Regierungsparteien sich einen Vorteil bei den Parlamentswahlen: Eine Rechnung, die eher nicht aufgehen dürfte. Doch aus diesen innenpolitischen Erwägungen heraus könnte sich die Regierung gezwungen sehen, den Assoziierungsvertrag nicht nur als niederländische Regierung, sondern auch als Mitglied und derzeitige Vorsitzende im europäischen Rat abzulehnen. Damit wäre das Assoziierungsabkommen gescheitert, die Regierung wäre innenpolitisch den Scharfmachern entgegengekommen, würde aber für die Wahlen wohl eher trotzdem keine Punkte sammeln, und die EU wäre vom zerfall bedroht.

IV.

Die traurige Wahrheit ist, dass man in den Niederlanden gestern gar nicht über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abgestimmt hat. Was aus den Menschen in diesem recht fernen land in Osteuropa wird, war denen, die in Rotterdam, Groningen und Utrecht zu den Urnen gingen, ziemlich egal. Wichtig war, mit möglichst wenig Aufwand der als mächtig empfundenen EU einen Denkzettel zu verpassen und wenn möglich den Todesstoß zu versetzen. Dies wurde als demokratische Tat gewürdigt, dabei war es die Tat einer verschwindend kleinen Minderheit, die Tat einer mächtig gewordenen nationalistischen Lobby, die Volksabstimmungen und geschürten Volkszorn für ihre Zwecke ausnutzt. Diese Lobby hat gute Chancen, ihren Sieg als Triumph des kleinen Mannes über die Wirtschaftslobby und die Kriegstreiber zu verkaufen. Und dies alles geschieht vollkommen unabhängig vom Inhalt des Abkommens selbst, über das sich kaum jemand informiert, und das bei den Campagnen der Euro-Gegner auch überhaupt keine Rolle spielt. Die Kaperung demokratischer Machtinstrumente durch teils antidemokratische Strömungen ist ein altes Muster, das wir schon in der Hochzeit des Faschismus in Europa beobachten konnten. Wichtige Entscheidungen wurden durch aklamatorische Volksabstimmungen legitimiert. Es ist bezeichnend, dass die sogenannten etablierten Parteien in den Niederlanden sich im großen und ganzen gegen Volksabstimmungen aussprechen, obwohl damit ursprünglich das politische Leben belebt werden sollte.

Ich selbst bin durchaus dafür, solche Volksabstimmungen durchzuführen. Allerdings glaube ich fest daran, dass es unter anderen Voraussetzungen geschehen muss. Eine Volksabstimmung kann meiner Ansicht nach nur gültig sein, wenn sich in jedem Falle mehr als die Hälfte, vielleicht sogar zwei drittel, der Wähler überhaupt für das Thema interessieren, also zur Abstimmung gehen. Ansonsten würde ich die niedrige Wahlbeteiligung als Desinteresse werten und als Zufriedenheit der Bürger mit dem Beschluss der Volksvertreter. Wer wirklich eine Volksabstimmung durchführen will, der muss es auch schaffen, das Volk in seiner Mehrheit für ein Thema zu interessieren. Desweiteren bin ich der Ansicht, dass Volksabstimmungen sich nur auf Gegenstände nationaler Gesetzgebung beziehen können. Es wäre also möglich, eine abstimmung darüber durchzuführen, ob man der EU beitritt, ob man ihr gewisse Befugnisse übergibt und ähnliches, aber nicht über die Frage, wie man bei einem bestimmten europarechtlichen Akt abstimmt, der Einstimmigkeit verlangt. Mit der Annahme des europäischen Vertrages hat man nämlich die Regierung ermächtigt, im Namen des Landes im europäischen Rat frei abzustimmen.

Im Klartext: Wenn ich zu sagen hätte, wäre die gestrige Abstimmung ungültig. Und wenn sie gültig gewesen wäre, so hätte sie sich nur auf die Teile des Vertragswerkes bezogen, die nicht der europäischen Gesetzgebung unterliegen. Denn dort wäre für mich als guter Demokrat das Votum des europäischen Parlaments oder einer gesamteuropäischen Volksabstimmung ausschlaggebend gewesen.

]EU, Ukraine, Niederlande, Demokratie, Volksabstimmungen, Rechtspopulismus, Europa]

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