Göttliche Gespräche

Eigentlich wollte ich in meiner heutigen Erzählung über etwas gänzlich Anderes schreiben; ich wollte erzählen, wie und wo ich das Wochenende verbracht habe, was ich erlebt und was ich gesehen habe. Aber dazu später – aus aktuellem Anlass, sozusagen.

Die Sonne scheint mir gerade ins Gesicht. Es ist kühl, ein kalter Wind fegt über den Kirow-Platz im Zentrum Irkutsk. Den einen Passanten im roten T-Shirt, der gerade an mir vorbeigeht, scheint dies nicht zu stören; er zollt wahrscheinlich dem Umstand Tribut, dass es für Anfang November zu warm ist. Ich jedenfalls stelle den Kragen meiner Jacke höher.

Soeben habe ich die Hausaufgaben zu meiner großen Genugtuung abgeschlossen. Vor einer halben Stunde war ich also noch mitten im harten Arbeitsprozess, vertieft in einen Text des sibirischen Schriftstellers Rasputin über den Baikalsee. Eine übrigens sehr interessante und anregende Abhandlung über die Wirkung dieses “heiligen Meeres” auf jene, die es zum ersten Mal zu Gesicht bekommen; darüber weiß dieser Blog auch schon vieles zu berichten.

Dementsprechend saß ich da, auf der harten Parkbank. Ich habe mich von meiner Umwelt abgekoppelt, lese Zeile für Zeile. “Wie wir sehen, lernen Sie gerade”, unterbrach eine Stimme meine Lektüre. Ich hob meinen Kopf, vor mir standen zwei stattliche ältere Damen. Echte russische babuschki. “Ja, das ist von Zeit zu Zeit notwendig”, antwortete ich. “Sie eignen sich gerade Wissen an, stimmt’s?” “Richtig. Und es bereitet mir sogar Vergnügen.” “Ist das immer so?”, fragte eine der Beiden nach. “Nein, bei Weitem nicht”, erklärte ich lachend. “Sie brauchen all das für das Studium und für die Arbeit, stimmt’s?” “Genau”, erwiderte ich.

“Aber wissen Sie, was Sie noch brauchen? Etwas, das noch viel wichtiger ist?” Darauf eine kurze rhetorische Pause. “Duchownoje znanije.” Ich übersetzte diesen Ausdruck spontan als “geistiges Wissen”, welches Zufriedenheit und Ausgeglichenheit bringt – kurz: nützlich für die eigene Seele ist. Wie so oft bleibt es im Russischen aber nicht bei einer Bedeutung, wie ich im späteren Verlauf des Gespräches feststellen konnte.

“Ja, ich weiß, was das heißt”, nickte ich. “Ach, wirklich? Heutzutage sind doch alle jungen Leute gleich: lernen, arbeiten, Geld, Geld, Geld.” Ich sah die beiden babuschki mit einem fragenden Blick an. “Wissen Sie, wir sind schon älter. Und im Alter verändert sich vieles.” Immer noch hatte ich keine Vorstellung, in welche Richtung dieses Gespräch verlaufen würde. Insgeheim hoffte ich auf Erzählungen über die Sowjetzeit, darüber, wie es früher war und darüber, welchen Eindruck die zwei Damen vom heutigen Russland haben.

Doch unerwartet holte eine der beiden babuschki eine blaue lederne Schatulle aus ihrer Handtasche, klappte sie auf, zeigte mit dem Finger auf eine Stelle und bat mich, laut vorzulesen. Ein wenig überrumpelt, aber um Höflichkeit bemüht, begann ich zu lesen. Es war die Bibel.

“Ja, sehr gut”, ermunterten sie mich. “Jetzt”, und die babuschka blätterte hastig, “lesen Sie diesen Satz.” Bereitwillig las ich; mir fiel es aber schwer, ein Schmunzeln zu unterdrücken. “Sehen Sie, in diesem Buch steht so viel Nützliches drin! Über die Familie und über die eigene Lebensweise, Gott hilft in allen Lebenslagen weiter!” Die Beiden blickten mich begeistert an. “Nun, ja…”, antwortete ich.

“Hier, für Sie”, sagte die eine mit der Bibel in der Hand und legte mir eine Zeitschrift in den Schoß. “Lesen Sie!” “Ja, werde ich”, antwortete ich und warf einen Blick auf das “Geschenk”. “Warum tun Menschen Böses?” stand auf dem Titelblatt.

Ein wenig verdutzt saß ich da, auf der Parkbank, und versuchte, alle Missionierungsversuche freundlich von mir zu weisen, blätterte aber gleichzeitig in der Zeitschrift. Auf der letzten Seite schließlich fand ich das, was ich mir erwartet hatte: www.watchtower.org, stand dort. Zeugen Jehovas also, dachte ich mir. Dass ich mit Zeugen Jehovas nicht auf der heimischen Türschwelle, sondern auf einem Platz einer sibirischen Stadt sprechen würde, das hätte ich mir nicht erwartet.

“So, wir müssen jetzt weiter, es war angenehm, mit Ihnen zu reden,” sagten die babuschki. “In China warten noch eineinhalb Milliarden Menschen auf die frohe Botschaft.” Darauf spazierten sie von dannen. Eine Parkbank weiter.



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