„Going postal“


“…Als man in den 80er Jahren in den USA im Zuge der Reaganomics dazu überging, die Post zu privatisieren und zu verschlanken, kehrten zahlreiche ehemalige Angestellte bewaffnet an ihren Arbeitsplatz zurück und schossen dort um sich. „Going postal“, aufs Postamt gehen, ist seither in den USA ein Synonym für Amoklaufen. In Frankreich hat die seit einigen Jahren betriebene Privatisierung des Telekommunikationskonzerns France Telecom eine Selbstmordwelle ausgelöst: Innerhalb von nur 18 Monaten haben sich 25 Angestellte das Leben genommen. (Süddeutsche Zeitung vom 30.10.2009) In Europa scheinen noch immer ein eher depressiver Modus der Reaktion auf biographische Brüche und der Modus einer Reprivatisierung gesellschaftlicher Konflikte vorzuherrschen. Die Menschen geben sich selbst die Schuld und versinken in Resignation und stiller Verzweiflung. Wie wir jetzt sehen, muss das nicht unbedingt so bleiben. Wie wir es auch drehen und wenden, am Ende unserer Überlegungen finden wir uns unter den giftigen Bäumen unseres neoliberalen Dschungels vor.

Erweiterter Suizid

„Eine unausweichlich scheinende Katastrophe muss man beschleunigen“, hat Ernst Jünger einmal gesagt, und uns damit einen Fingerzeig geliefert zur Lösung des Rätsels des erweiterten Suizids. Statt passiv zuzusehen, wie dem eigenen Lebensentwurf die Grundlagen entzogen werden, nimmt man die Zerstörung in eigene Regie. Warum aber entschließt sich der Suizidant, in seinen eigenen Untergang andere mitzureißen? Warum geht er nicht auf den Dachboden und hängt sich dort still und leise auf? Warum fährt er nicht mit dem Auto in den Wald und leitet die Abgase nach innen? Entweder ist seine Wut auf die wirklichen und vermeintlichen Verursacher seines Unglücks zu groß oder er ist so narzisstisch, dass ihm der einfache Suizid zu unspektakulär vorkommt. Ein solcher erweiterter Suizid drückt eine ins Negative gewendete Größen- und Allmachtphantasie aus. Der Täter hält sich für Gott oder einen Übermenschen – er schwingt sich zum Herrscher über Leben und Tod anderer auf. Dahinter steht eine spezifische Form von narzisstischer Wut.

Manche Menschen können mit Kränkungen gelassen umgehen. Sie prallen an ihrem intakten Selbstwertgefühl ab, während andere bei vergleichsweise harmlosen und banal wirkenden Kränkungen buchstäblich um ihre Existenz fürchten. Der Rückschlag auf eine erfahrene Kränkung kann dann über die Maßen heftig ausfallen, weil sie so erlebt werden, dass sie auf keinen Fall hätte passieren dürfen.

Im „Zeitalter des Narzissmus“ kommt noch etwas anderes ins Spiel. Wer es nicht schafft, auf gesellschaftlich üblichem Weg Anerkennung zu finden, kann als Negativheld in die Annalen der Geschichte eingehen. Pointiert ausgedrückt: Wer bei „Deutschland sucht den Superstar“ nicht landen kann, kann sich für die bösartige Variante des medialen Narzissmus entscheiden und als Amokläufer Berühmtheit erlangen.
Seit dem Massaker an der Colombine-High-School in Littleton/Colorado im Jahr 1999 spielt dieses Motiv bei einigen spektakulären Amoktaten junger Männer eine dominierende Rolle. „Ich möchte, dass mich eines Tages alle kennen“, hat Robert S. im Vorfeld der Tat einer Mitschülerin anvertraut. Auch den Namenlosen und aus der Welt Herausgefallenen wird auf diese Weise Beachtung gesichert und Bedeutung verliehen. Anerkennungsverluste und -defizite machen Menschen anfällig für das, was Florian Rötzer „Aufmerksamkeitsterror“ genannt hat: Du musst etwas großes Böses tun, um aus dem Nichts der Bedeutungslosigkeit herauszutreten und ein Gefühl des Existierens zu erzeugen. „Rampage killing“ nennt man in den USA einen Typus öffentlichen Mordens, bei dem sich eine private Wut mit der zeitgenössischen Sehnsucht nach medialer Spiegelung zu einer explosiven Mischung verbindet. Diesem Typus des Mordens wird man, wenn die bisherigen Vermutungen und Aussagen aus seinem persönlichen Umfeld zutreffen, auch die Tat des Andreas L. zuordnen müssen.

Das Streben nach perfekter Sicherheit

Noch eine letzte Bemerkung: Die Katastrophe in den französischen Alpen offenbart das vor allem seit 9/11 um sich greifenden Bestreben, jede nur denkbare Sicherheitslücke zu schließen, ein Bestreben, das jedoch gleichzeitig neue Unsicherheiten hervorbringt. Früher durften z.B. Kinder in Begleitung der Stewardess den Piloten in der Pilotenkanzel besuchen, heute hat man das Cockpit derart gegen unerwünschte Eindringlinge gesichert, dass selbst das rettende Eindringen nicht mehr möglich ist. Die nun erwogene und von einigen Fluggesellschaften umgehend eingeführte Zwei-Personen-Regel wird ebenfalls keine perfekte, lückenlose Sicherheit bringen.

Diese Gesellschaft setzt nach Katastrophen, wie der gerade erlebten, auf den Ausbau technisch-instrumenteller Sicherheit, auf Überwachungs- und Kontrolltechniken, an denen gewisse Industrien gut verdienen. Dabei böte allein soziale Sicherheit langfristig erheblich mehr Schutz. Soziale Sicherheit ist ein dynamischer Faktor, der im Wesentlichen durch das in einer Gesellschaft herrschende Klima bestimmt wird, das zwischenmenschliche Akzeptanz und Vertrauen erzeugt oder eben eher unterbindet. Der vom Wettbewerbswahn entfesselte Sozialdarwinismus erzeugt eher ein Klima des Misstrauen und der gegenseitigen Verfeindung.

Aber auch in einer freieren, weniger repressiven Gesellschaft werden wir mit gewissen Risiken leben müssen. Wer nach perfekter, lückenloser Sicherheit strebt, kommt darin um.”

Quelle und gesamter Text: http://www.nachdenkseiten.de/?p=25597


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