Glücksmaximierung

1923: Während im Nachbarland der Nationalsozialismus sein Haupt erhebt, träumt Mordechai de Paauw davon, den familiengeführten Fleischereibetrieb in einem kleinen Ort nahe Amsterdam zu einem Weltunternehmen zu machen. Dabei helfen sollen ihm die wenigen Teile der Tierkadaver, die noch nicht zu Geld gemacht werden; während das Fleisch zu Nahrungsmitteln verarbeitet wird, das Knochenmehl zu Dünger wird, Borstenhaare zu Bürsten und so weiter und so weiter, fällt dem jungen Mordechai auf, dass einige Organe nicht verwendet werden können. Hierfür, so scheint es ihm, muss es eine Verwendung geben. Zur selben Zeit gelingt zwei Kanadiern ein pharmazeutischer Durchbruch: aus der Bauchspeicheldrüse extrahieren sie Insulin.

So hat Mordechai seine Antwort - er will einen Wissenschaftler mit ins Boot holen und der Schlachterei einen Pharmaziebetrieb zur Seite stellen. In dem Exildeutschen Rafael Levine, einem brillianten Wissenschaftler, findet er diesen Partner und gemeinsam gründen sie Farmacon. Beim Insulin bleibt es nicht - später gelingt es Levine, aus Stierhoden Testosteron zu gewinnen. Dieses "Seelensekret", so hoffen beide Männer, wird sie berühmt machen. Doch während Levine in seinem Amsterdamer Labor in vorsichtigen Schritten die Wirkung eines "Brunfthormons" testet, bei dem er davon ausgeht, es könnte Unfruchtbarkeit bei Frauen heilen und Wechseljahresbeschwerden lindern, will Mordechai seine eigenen Versuche durchführen. So verteilt er an die jungen Mitarbeiterinnen seiner Fabrik Tabletten und trägt ihnen auf, zu beobachten, wie ihre Körper darauf reagieren. Das ist allerdings nicht das einzige, das sie für ihn tun sollen. Tatsächlich kann de Paauw seine Triebe derart schlecht beherrschen, dass er täglich eine junge Frau aus der Werkshalle in sein Büro bestellt.

Seine Frau Rivka heiratet er nur, weil es sich bei ihr um die Tochter eines einflussreichen Kollegen und Freundes von Rafael Levine handelt, der Mordechai mit Konsequenzen droht, nachdem er entdeckt, dass seine Tochter von ihm schwanger ist. Während Rivka die fünf gemeinsamen Kinder mit Mordechai großzieht, während sie Theaterabende und andere Veranstaltungen für die Fabrikarbeiterinnen organisiert und Künstler im Haus ein und ausgehen, expandiert Farmacon. Es beherrscht den deutschen Insulinmarkt und streckt die Finger auch nach dem britischen und amerikanischen Markt aus. Doch nicht nur der Weltkrieg macht das Leben für Mordechai de Paauw bald schwieriger...

Erzählt wird die Geschichte rückblickend von einem siebenundneunzigjährigen Mordechai de Paauw, der zahn- und stimmlos an sein Krankenbett gefesselt ist, der überall Schmerzen hat und dem ein würdevolles Sterben nicht vergönnt ist. Mitleid für diesen Menschen will sich dennoch nicht einstellen - die Art und Weise, in der er seine Macht- und Sexgier rechtfertigt, in der er sich an seinen Eroberungen aufgeilt und sich in den Erinnerungen daran, wie er Freunde und Rivalen gleichermaßen ausgestochen hat suhlt, ist verstörend. Noch nie ist mir ein Roman untergekommen, bei dem ich dem Protagonisten und Erzähler nicht ein Fünkchen Verständnis entgegenbringen konnte.

Man muss es Saskia Goldschmidt als schriftstellerische Leistung anrechnen, dass sich dieses Buch tatsächlich so liest wie die Lebenserinnerungen eines geilen alten Bocks, den selbst Tod, Exil und Verzweiflungstaten derjenigen, die ihm am nächsten standen, nicht zu der Einsicht bewegen, dass sein Verhalten, das er lebenslang an den Tag gelegt hat, verabscheuungswürdig ist (Wie sollte er auch? Sein kapitalistischer Erfolg gibt ihm recht). Schade, dass es aufgrund der gewählten Erzählperspektive nicht möglich ist, die Fiesheit des Protagonisten durch raffinierte Sprache aufzuwiegen: de Paauw erzählt geradlinig und in einfachen Worten von seinem Leben. Vielleicht hätte hier eine neutral gewählt Erzählstimme besser gewirkt...

Goldschmidt hat einen Roman rund um eine spannende Zeit und ein interessantes Thema (die Entwicklung der Pharmaindustrie) geschrieben, der sich auch wie eine Kapitalismuskritik liest und der auf tatsächlichen Begebenheiten fußt. Die Geschichte von Farmacon basiert auf der real existierenden Firma Organon, die 1923 von Saal van Zwanenberg, einem Direktor von Schlachtbetrieben, gegründet wurde.Sein Partner war der Wissenschaftler Ernst Laqueur, der im Buch als Rafael Levine auftritt.

Kurzfazit: Ein interessantes Thema, eine spanndende Zeit, ein stark gezeichnetes Psychogramm, aber keine gut gewählte Erzählperspektive.

Ich danke dem dtv für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares.

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