Geh denken!

Geh denken!

Armenisches Flüchtlingslager, 1919

Für den Bundestag sind die Armenier jetzt ein Volk, das durch einen Genozid dezimiert wurde. Das ist keine schlechte Entwicklung. Für eine Mehrheit desselben Bundestages sind die Syrer hingegen ein Volk, vor dem man sich wehren muss, wenn es in zu großer Zahl zu uns kommt. Wenn notwendig mit Gewalt. Dessen Dezimierung hin oder her. Nicht ausgeschlossen, dass eine der nachfolgenden Generationen in vielen Jahren beschließen wird, die Ignoranz gegen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge auch zu einem Gedenken zu führen. Um immer daran zu erinnern, was für gravierende Fehler geschehen, wenn man nicht zu jeder Zeit die Augen offen hält. Um daran zu erinnern, dass man den Anfängen wehren müsste. Heute die Armenier, später die Syrer. Immer zu spät, immer erst, wenn das Sujet lange verrottet in der Konkursmasse menschlicher Geschichtsschreibung. Nie zu rechten Zeit. Armenisches Leid, das als roter Faden in das aktuell syrische mündet, ist nicht vorgesehen. Der Bundestag macht es mal so und mal so. Grundsätzliche Prinzipien sind ausverkauft. Außerdem ist Konklusion ganz offenbar nicht die Stärke einer Kultur, die sich dem Andenken verschreibt, aber die daraus gezogenen Lehren nicht gebraucht, um sie in der Gegenwart zu einer Haltung zu deklarieren. Aus Geschichte lernen? Schön wäre es ...

Es ging bei jener Resolution der letzten Woche nicht so sehr um Handfestes. Bloß mehr oder weniger um Moralisches. Um einen Akt der Anerkennung, Anteilnahme und der Wahrung des Gedächtnisses. (Lassen wir mal den symbolpolitischen Gehalt weg, der da wäre, dass man diese Resolution als emanzipative Spiegelfechterei gegen den türkischen Präsidenten missbrauchte.) Niemand sollte mehr vom Völkermord an den Armeniern reden können, wie von einem kleinen Unfall am Rande der türkischen Geschichte, der dummerweise geschehen ist, aber eigentlich nicht ganz so wild war. Es ging um die Schaffung von Respekt vor den Gefühlen solcher Familien, die davon betroffen waren - und noch sind. Sie sollten keine nicht anerkannten Opfer des Zwanzigsten Jahrhunderts mehr sein. Die Initiative ist zu begrüßen, auch wenn sie nur ein symbolpolitisches Ansinnen darstellt. Denn die Theorie meint ja, dass solche Akte dazu da sind, den gegenwärtigen Alltag demutsvoller zu begehen. Wer das begangene Unrecht an Hunderttausenden im Herzen trägt, der wird auch im Jetzt leichter mal reflektieren und die Dynamiken der gegenwärtigen Ereignisse nicht streitlos hinnehmen wie jemand, dem das Leben keine Wahl mehr lässt. Wer weiß, was Juden, Armeniern und anderen Völkerschaften angetan wurde, der wird die Aufwiegelung gegen Volksgruppen nicht als dummen Streich akzeptieren, sondern sich immer auch bewusst sein, dass da Stimmung gemacht wird, die in solche Exzesse führen kann, wenn man nicht die Kurve kriegt, wenn man nicht aufsteht und sich in den Weg stellt.
Durch ein Andenken soll man ferner daran denken, wie es dazu kam und wo es endete. Denken wir an die viele Juden, die flüchten wollten, die aber kaum Ausreisemöglichkeiten erhielten und so in einem Deutschland harren mussten, in dem sie zunächst der Ausgrenzung und später der Verfolgung ausgesetzt waren, dann müsste man doch kapieren, wie brutal es sich ausformen kann. Die internationale Staatengemeinschaft hatte damals kläglich versagt, weil sie alle miteinander die Grenzen so dicht machten wie ihren Zugang zu Mitgefühl und Empathie. Wer daran denkt, der muss zwangsläufig zur Ansicht kommen, dass Flucht ein Ausweg sein kann und nicht etwa ein Verbrechen und Sozialschmarotzerei. Jedenfalls sollte man durch das Andenken wissen, dass Grenzschließungen keine Option sind, wenn man es mit dem Respekt vor dem menschlichen Leben ernst meint.

Jedes Jahr berufen wir uns auf die Ereignisse von damals, lassen es in Ausrufen wie »Nie wieder!« gipfeln und trotzdem schauten wir dabei zu, wie die Gesellschaft sich immer mehr in rassistische Selbstschutzbehauptungen verstieg. Wir gedachten des Holocaust und Sarrazin war der Held von Leuten, die es nicht juckte, dass da jemand von jüdischen Genen schrieb wie von einer verifizierten Annahme, die in jedem besseren Biologiebuch stehe. Wir schicken jetzt seit Generationen unsere Kinder auf Schulausflügen nach Dachau und guckten desinteressiert dabei zu, als man Moslems zur Stammzelle der Gewaltbereitschaft erklärte, sie kriminalisierte und pathologisierte. Bürgerwehren, Sorgenbürger, Montagsdemonstranten und rechte Gesinnungsträger, die sich als Partei organisieren, kommen über ein Land, das seit so vielen Jahren andenkt. Und genau das ist das Problem. Andenken sind zwar gut, eine moralisch furiose Sache, aber halt wertlos, wenn sie einstudiert und ritualisiert sind, wenn man sie als Mantra absondert und nicht verinnerlicht. Sie sind als Symbol unverzichtbar, aber wirken je weniger in den politischen Alltag hinein desto zeremonieller sie sich im Gedächtnis einer Nation verankert haben.
Besonders gut erkennt man das dieser Tage, da der Bundestag die Armenier als Volk anerkennt, dass verfolgt und getötet wurde, er aber gleichzeitig in Zurückhaltung erstarrt, wenn es um ein aktuelles Volk geht, das vor Verfolgung und Tod flüchtet. Was sind Andenken wert, wenn sie nicht dazu dienen, der Gegenwart eine Leitlinie an die Hand zu geben? Symbole wieder mal. Immer wieder Symbole. Man spricht viel von historischen Verantwortungen und meint genau das: Die Verantwortung ist historisch und irgendwo in einem Geschichtsbuch vergraben. Sie ist alt und letztlich vergangen. Nichts mehr für heute, eine Verpflichtung von gestern. Leider gilt das nun seit Jahren. Auschwitz gedenken und NSU-Prozesse verschleppen, an Novemberpogrome erinnern und heutige Flüchtlinge durch die Bank kriminalisieren. Gedenken? Geh denken!

wallpaper-1019588
Pfingsten Urlaub- Reisetipps und Tourangebote
wallpaper-1019588
#1514 [Review] Manga ~ Heiße Begegnungen
wallpaper-1019588
Interview mit Annett Schneider zum 18. Geburtstag der familienfreund KG
wallpaper-1019588
aniverse: Alle Anime-Neuheiten im Mai 2024 im Überblick