Gegen das Vergessen

Gegen das Vergessen

Bauarbeiter am geplanten Berliner
Flughafen; sie haben vergessen, woran
sie arbeiten.

Vor einigen Wochen lief mir ein Bekannter über den Weg. Schlecht sah er aus. Braune Augenränder zierten sein Gesicht. Die glichen einer geschmacklosen Brille. Blass wie der Tod beim Friedhofsspaziergang war er außerdem. Ich traute mich kaum ihn zu fragen, was mit ihm geschehen war. Vielleicht war er ja ernstlich erkrankt. Mir wäre ein solches Geständnis nicht unangenehm, Offenheit ist stets zu begrüßen. Aber ich habe mir im Laufe meines Lebens zugestanden, dass ich mit Trost und Zuspruch kein so glückliches Händchen habe. Es fällt mir äußerst schwer, jemanden zu sagen, dass es sicherlich schon wieder wird. Ohne Befund und Fachmeinung neige ich eher dazu, keinen Kommentar abzusondern. Realist zu sein unterkühlt. Allerdings tat ich es dann doch und fragte ihn. »Ach hör auf«, rief er aus. »Handwerker, ich sag nur Handwerker!« Wir suchten uns eine Ecke, in die der nasskalte Wind nicht zog und er erzählte mir, was bei ihm Zuhause so vorging.

Seit fast eine Jahr habe er die Handwerker im Haus, fing er an zu erzählen. Sie hätten ihm den ganzen Boden im Schlafzimmer rausgerissen und den Estrich abgefräst. Den ganzen Tag hämmerten sie herum, spachtelten, rissen dort auf, machten drüben wieder dicht und wenn sie mal nichts Handwerkliches täten, würden sie schwatzen wie die Waschweiber. Er habe ja vor etwas mehr als einem Jahr seinen Angestelltenjob gekündigt und seine Selbstständigkeit ausgebaut, arbeite vom heimischen Schreibtisch aus. Konzentrieren könne er sich aber nicht, der stete Lärm mache ihn mürbe, raube ihm seine Gedanken. Als Folge blieben die Aufträge aus. Manche Aufträge musste er nochmal überarbeiten, was er dann am Sonntag tue, weil da die Handwerker unpässlich seien. Das Wohnzimmer fungiere als Lagerplatz für Zement, Fliesen und Bierkästen. Trotzdem schlafe er nun seit Monaten auf dem engen Sofa, das in diesem wohnlichen Lager stehe. Die Nächte seien lang, meist sehr schmerzhaft. Wenn er irgendwann wegen Erschöpfung doch einschlafe, wache er drei Stunden später völlig gerädert auf. Die Bandscheibe werde wohl bald zum Vorfall. Er könne seine Beine kaum durchdrücken am Morgen, so steif seien sie nach der Nachtruhe.
Kürzlich habe er den Vorarbeiter gefragt, ob und wann man denn mit Fertigstellung rechnen könne. Doch der wich nur aus. Als er ihn fragte, weswegen genau dieser oder jener Schritt notwendig sei, erhielt er auch keine klare Ansage. Zuletzt fragte er, ob man denn die Arbeiten nicht nur vormittags verrichten könne, damit er nachmittags Ruhe für seine Arbeit habe. Der Vorarbeiter nickte verständnisvoll, legte aber dar, dass sich dann die Massnahmen beträchtlich in die Länge ziehen würden. Mein Bekannter gab es auf und ließ alles wie es war. Fortan hämmern, spachteln und meiseln sie weiter wie die Henker. Gestern haben sie dann im Schlafzimmer auch noch die Wände aufgeklopft. Er habe nicht mal mehr gefragt, weshalb das nun nötig war.

»Warum in aller Welt hast du denn damals Handwerker bestellt?«, fragte ich ihn nach den Ausführungen über sein Martyrium. Er sah mich mit seinen Brillenaugen an, ein trauriges Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab und er zischte: »Ich weiß es nicht mehr.« Er hatte es tatsächlich vergessen, mit welcher Aktion die Tortur ihren Anfang nahm. Zu lange lagen die handwerkerlosen Zeiten zurück. Er kannte kein Leben vor dem Lärmen und dem Stauben mehr. So zog jeder von uns in eine andere Richtung weiter. Er würde heute Abend wieder auf das Sofa kriechen. Ich in mein warmes Bett.
Er ging mir an jenem Abend lange nicht aus dem Sinn, ich hatte Mitleid mit ihm. Aber ich war auch voller Unverständnis. Wie um Himmels Willen konnte man die Ursache denn vergessen? Und dann dachte ich an den Terror, an die Geflüchteten und an den Rechtsruck und daran, dass wir als Gesellschaft und westliches Wertesystem es nicht viel anders tun. Wir haben auch vergessen, warum es so ist, wie es jetzt ist. Einen Ursprung gibt es immer. Aber wir haben gehämmert, gespachtelt und gemeiselt und haben zu einem bestimmten Zeitpunkt vergessen, warum wir es tun. Die Demenz halt, die unser schnelles Leben ausmacht. Heute ziehen wir in den Krieg, ruinieren das Klima und beuten Ressourcen aus und morgen wundern wir uns, dass die einen zu uns fliehen und die anderen so zornig sind, dass sie uns lynchen wollen. Man bestellt Handwerker und irgendwann haben wir vergessen, wieso wir sie angerufen haben. Mein Bekannter ist eben auch nur so ein Mensch, der unter zweckentfremdeter Demenz leidet. Westlicher Typus. Dort ganz normal, dergleichen kommt täglich vor bei uns.

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