Erinnerungsfetzen III - Spießrutenlauf

Heute erzähle ich wiedermal eine Begebenheit aus der Babyzeit des Großen, die sich ins Gehirn eingebrannt hat, weil sie so charakterisch und kräftezehrend war. Er war ein knappes halbes Jahr alt, meine Eltern waren zu Besuch und wir machten einen Ausflug in den Tier- und Freizeitpark Germendorf, den wir schon kannten, bevor wir Eltern wurden. Eine Woche vor der Geburt des Großen waren wir hochschwanger dort gewesen und wussten, das nächste Mal würden wir mit einem Baby wiederkommen. So war es dann auch, nur dass alles ganz anders gekommen war, als wir es uns vorgestellt hatten.
Ich vermute mal, dass der Große auf der halbstündigen Fahrt im Auto etwas geschlafen hatte, obwohl er sich damit ja schwer tat und meist hysterisch schrie. Mit Sicherheit war der Schlaf wieder einmal zu kurz, er wachte ja auch sofort auf, wenn das Auto (oder der Kinderwagen) stehenblieb. Wir waren noch nicht lange im Freizeitpark, da wurde er schon wieder unruhig. Ich stillte, wir trugen ihn weiter herum, er wurde quengelig, ich stillte wieder, er zappelte, meine Eltern übernahmen, es half nichts, sobald man ihn in den Kinderwagen legte, fing er an zu schreien, wie üblich. Der Untergrund war leider sehr glatt, also nicht einschlafförderlich. Ich wollte ihn eigentlich durch das Stillen etwas dösig machen und dann auf dem Arm in den Schlaf schuckeln, so dass wir ihn in den Wagen legen könnten. Pustekuchen. Es war zu unruhig, zu fremd, zu viele Eindrücke, zuviel "Jetzt schlaf doch endlich!". Wir schirmten ihn ab, ich suchte mir ruhige Ecken, stillte immer wieder, aber es half alles nichts. Eltern verzweifelt, Großeltern hilflos. Wir wollten doch nicht schon wieder umkehren!
Es gab keine andere Möglichkeit, als ihn zum Schlafen zu zwingen. Er wehrte sich sowieso fast immer dagegen und es war jedesmal ein Spießrutenlauf, bis er eingeschlafen war. Das aber, was folgte, war der allerschlimmste Spießrutenlauf der ganzen Babyzeit. Da keiner von uns 4 Erwachsenen Erfolg damit hatte, ihn zu beruhigen und sanft zum Schlafen zu bewegen, er sich immer mehr aufbäumte und völlig überdreht und überreizt war, weiteres Herumtragen und Stillen nur noch mehr dazu beigetragen hätten und keiner irgendeine Initiative ergriff, weil jeder ratlos war, wusste ich mir nicht anders zu helfen, als ihn in den Kinderwagen zu legen und loszufahren. Er schrie, als ob die Welt untergehen würde, und der unvermeidliche Kommentar "Da hat aber einer Hunger!" ließ nicht auf sich warten. Ich schrie die Dame an, die Nerven lagen blank... Es gab eine einzige, kurze (vielleicht 100 m lange) Strecke, die gepflastert war und richtig holperte. Diese Strecke fuhr ich mit dem hysterisch schreienden Kind im Wagen bestimmt 30 Mal ganz langsam auf und ab. Es ruckelte wunderbar und unter "normalen" Umständen wäre er nach wenigen Minuten eingeschlafen. Aber er war auf 180, schrie sich die Seele aus dem Leib und es dauerte sehr lange, bis der Weg seine Wirkung zeigte. Bis dahin wäre ich abwechselnd am liebsten im Boden versunken und heulend weggerannt. Es war furchtbar! Und bei allen anderen Eltern schliefen die Kinder natürlich seelenruhig im Wagen.
Erinnerungsfetzen III - SpießrutenlaufQuelle: Pixabay
Meine Mutter schaute mich hilflos und mitleidig an, wann immer ich ihren Weg kreuzte. Ich fühlte mich von aller Welt verlassen, allein mit einem schreienden Baby, das sich nicht beruhigen ließ. Ich weinte, wie oft beim Kinderwagenschieben. Als er endlich, endlich eingeschlafen war, fühlte ich mich leer und ausgebrannt. Ich wusste, es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, aber es war trotzdem einfach nur schrecklich. Für ihn, für mich, für alle Beteiligten. Wie schön es früher gewesen war, als wir einfach selbstbestimmt solche Ausflüge gemacht hatten. Als er sicher und tief schlief, übernahmen abwechselnd mein Mann und meine Eltern den Kinderwagen. Man musste ja schieben, durfte nicht stehenbleiben und Kaffee trinken. Er schlief sehr lange, hatte es also nötig gehabt. Danach war er ausgeruht und wir verbrachten noch einige Zeit im Freizeitpark. Ich glaube, er schrie dann im Auto auf dem Nachhauseweg wieder, aber nichts übertraf den Spießrutenlauf im Freizeitpark.
Ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war, aber es war eine unglaublich zermürbende, verzweifelte, kräftezehrende Situation, die mir bis heute deutlich vor Augen steht. Und die ich deshalb mit euch teilen möchte. Der eine belastende Aspekt war sein unstillbares, unberuhigbares, durch Übermüdung und Überreizung hervorgerufenes Schreien, das wir auch aus vielen anderen Situationen kannten. Der andere war das Gefühl, dass ich allein für sein Wohlbefinden und sein Seelenheil verantwortlich bin. Beides zusammengenommen war einfach zuviel. An diesem Tag und in seiner gesamten Babyzeit.
Und hier die bisherigen Erinnerungsfetzen:
Erinnerungsfetzen I
Erinnerungsfetzen II

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