EIN OLIVENHAIN IM FRÜHLING

Ida und Georg haben jeder eine schmerzhafte Ehe hinter sich, als sie sich in der Toskana begegnen, aber es braucht den Schock einer Begegnung, um die Gespenster der Vergangenheit endgültig zu bannen …

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Ida ging durch den Olivenhain. Zu ihren Füssen lag ein Teppich aus rotem Mohn, aus dem die knorrigen Stämme der Olivenbäume aufragten. Darüber flimmerten silbrig-grau die Blätter in der Frühlingssonne, und über allem spannte sich der blaue Himmel der Toskana. Mit jedem Atemzug füllten ihre Lungen sich mit Leben, mit Glück. Ja, das war vielleicht das grösste Wunder in diesen Tagen: Sie konnte wieder Glück verspüren. Welch eine gute Idee, vor drei Tagen spontan diesen Flug nach Florenz gebucht zu haben! Sie hatte sich am Flughafen einen Wagen gemietet und im ersten Hotel, in dem sie angefragt hatte, ein schönes Zimmer bekommen. Sie kannte Florenz von früher her, die Paläste und Strassen, die Plätze und Museen schienen sie mit offenen Armen wieder aufzunehmen. Genau wie die Landschaft ringsumher, die Hügel, die alten Zypressenalleen, und jetzt dieser Olivenhain …

Hinter ihr näherten sich Schritte. Sie war enttäuscht, nicht mehr allein zu sein, in ihren Gedanken unterbrochen zu werden. Eine nun schon vertraute Stimme sagte: “Wir hatten anscheinend den gleichen Gedanken. Die Natur ist hier so schön …”

Es war Dr. Georg Stöver, der hochgewachsene, gutausehende Mann mit dem schmalen Gelehrtengesicht aus dem Hotel. Ein Landsmann, der wie sie allein reiste. Sie schätzte ihn auf etwa Mitte vierzig. Sein dunkles Haar war kurz geschoren, mit tiefen Geheimratsecken, aber es stand ihm gut. Jetzt sah er sie fragend an: “Wenn meine Gesellschaft Ihnen unangenehm ist, gehe ich einen anderen Weg.”

Ida lächelte ihm zu: “Nein, bleiben Sie nur.” Zu ihrem Erstaunen merkte sie, dass sie sich freute, ihn zu sehen.

Heute schien er mitteilsamer zu sein als sonst. Er sagte: “Ich habe die Toskana immer geliebt, ich hatte sogar einmal ein Haus hier.”

“Und was ist daraus geworden?”

“Ich musste es verkaufen, um meiner Ex-Frau das Leben zu ermöglichen, das sie liebte.” Er zuckte die Achseln: “Das ist verschmerzt.”

Sie erriet, dass er gern darüber sprechen würde und hakte nach: “Sie sind also geschieden.”

Er sprach stockend, mit langen Pausen, aber sie merkte, dass es ihm gut tat: Er hatte Larissa mehr geliebt als sein Leben, für sie hätte er alles hingegeben. Er berichtigte sich: “Habe ich alles hingegeben. Ich war mit Leib und Seele an sie gekettet.” Er war 33, als er ihr begegnete. Bis dahin hatten Frauen in seinem Leben kaum gezählt, weil er noch nicht der Richtigen begegnet war. Dass auch Larissa nicht die Richtige war, wusste er bald. Dazu war seine Liebe zu ihr zu qualvoll, zu schmerzlich. Aber sie war wunderschön. Klein und zierlich, mit langem schwarzen Haar, dunklen Augen und einem betörend sinnlichen Mund. Er hatte schnell gemerkt, dass Larissa sich mehr für sein Geld als ihn selbst interessierte. Das Geld, das er mit seinem ersten Roman verdient hatte. Er hatte ihn abends und nachts geschrieben, eine populärwissenschaftliche Darstellung seiner Arbeit als Humanbiologe. Nie hätte er gedacht, dass das Buch einen derartigen Erfolg haben würde. Larissa und er heirateten schnell. Eine Frau zu lieben, ohne sie zu heiraten, verbot ihm sein Ehrgefühl. Sie hatte geglaubt, dass der Geldquell nie versiegen würde, aber dazu hätte er einen neuen Roman schreiben müssen, und das konnte er nicht. Sobald er es versuchte, warf Larissa ihm vor, langweilig zu sein, keine Zeit für sie zu haben. Sie wollte ausgehen, sich amüsieren. Bald blieb ihnen nur noch sein Gehalt als Wissenschaftler. Ihm reichte es, Larissa nicht. Eines Tages lernte sie einen anderen Mann kennen, einen wirklich reichen Mann, betonte sie. Sie bat Georg um die Scheidung. Nach kurzem Schweigen setzte er hinzu: “Hätte sie nicht die Initiative ergriffen, wäre ich immer noch mit ihr verheiratet, würde immer noch wider alle Vernunft hoffen, dass ihre Liebe mir galt und nicht nur meinem Geld. Frauen, die so sind, können wahrscheinlich nichts dafür, aber sie richten Verheerungen in den Herzen der Männer an, die sie lieben. So, jetzt wissen Sie alles über mich.”

Es herrschte plötzlich eine so warme Vertrautheit zwischen ihnen, dass Ida ihm von ihrer eigenen Ehe erzählte: “In meinem Leben gab es ein ähnliches Erdbeben. Als ich Peter begegnete und mich sofort rettungslos in ihn verliebte, war ich 20 und studierte Kunst. Er war doppelt so alt wie ich und als Maler schon ziemlich bekannt, aber das war nicht das Ausschlaggebende für mich. Er faszinierte mich. Als Künstler, als Persönlichkeit, als Mann. Ich stürzte mich kopfüber in die Ehe mit ihm. Nachdem er mir zu verstehen gegeben hatte – und ich ihm glaubte – dass ich als Künstlerin nicht viel taugte, gab ich mein Studium auf, um nur noch für ihn dazusein, wie er es sich wünschte. Ich sorgte für sein Wohlergehen, dafür, dass er in Ruhe malen konnte. Wenn Ausstellungen seiner Werke in Paris, Genf oder New-York stattfanden, fuhr ich voraus, um alles für ihn vorzubereiten. Ich habe nicht sofort gemerkt, dass er trank. Alkoholiker sind sehr geschickt, wenn es darum geht, ihr Laster vor der Umgebung zu verbergen. Aber er hatte schlimme Stimmungsumschwünge. Er konnte der bezauberndste, der zartfühlendste Mann der Welt sein und gleich darauf zerstörte er alles mit seinem grenzenlosen Egoismus, seiner Wut auf alle und alles. Auch auf mich. Das war, wenn es ihm nicht gelang, seine Visionen auf die Leinwand zu übertragen. Je schlechter er sich fühlte, desto mehr trank er – der Teufelskreis. Zwei Entziehungskuren haben nichts gebracht, er starb vor drei Jahren qualvoll an einer Leberzirrhose. In den letzten Jahren konnte er nicht mehr arbeiten, und nach seinem Tod musste ich seine letzten Bilder verkaufen, um die Schulden zu begleichen. Mir blieb nichts. Er hatte mich so viel Energie gekostet, ich fühlte mich leer und ausgebrannt, aber ich konnte mich nicht gehen lassen, ich musste Geld verdienen. So habe ich angefangen, Modeschmuck zu entwerfen und hatte zu meinem Erstaunen schnell Erfolg damit. Seit einigen Monaten kann ich gut davon leben, ich kann endlich aufatmen.”

“In gewisser Weise hat Ihr Mann Sie zerstört, wie Larissa mich zerstörte.”

Ida nickte nachdenklich: “Warum haben wir das mit uns machen lassen?”

“Sucht man sich das aus?”

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, dann wandten sie sich gleichzeitig ihre Gesichter zu und mussten unwillkürlich lächeln: “Dabei kann das Leben so schön sein, wie jetzt”, sagte Ida dankbar.

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Abends im hoteleigenen Restaurant kam Georg wie selbstverständlich an ihren Tisch: “Darf ich mich zu Ihnen setzen?”

“Selbstverständlich”, freute sich Ida. Während der Mahlzeit ging Georg auf ihre Bitte ein, über seine Arbeit im Labor zu erzählen. Sie hörte ihm gebannt zu und war erstaunt, wie mühelos sie alles verstand: “Sie sind wirklich ein geborener Erzähler”, sagte sie. “Kein Wunder, dass Ihr Buch ein so grosser Erfolg wurde.”

“Und Sie sind die geborene Zuhörerin”, gab er ihr das Kompliment zurück, “aber jetzt sind Sie an der Reihe, ich möchte auch etwas über Ihre Arbeit wissen.”

Sie beschrieb ihm so gut sie konnte ihren Arbeitsalltag, und wie sie es anstellte, ihre Ideen zu verwirklichen.

“Das hört sich gut an”, erklärte er schliesslich, “aber ich habe das Gefühl, dass viel mehr in Ihnen steckt. Ich würde gern wissen, wie Sie malen.”

Sie hatte geglaubt, nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen zu können, aber plötzlich erstand vor ihrem inneren Auge der Olivenhain mit seinen Farben, seinem Frieden, der Sonne. Der Wunsch, ihn und seine Seele auf die Leinwand zu bannen, war so heftig, dass ihr der Atem stockte.

“Und Sie? Warum fangen Sie nicht wieder an zu schreiben?” fragte sie, um ihn von sich abzulenken.

“Ich werde darüber nachdenken”, versprach er.

Sie hoben das Glas und lächelten einander zu.

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Am nächsten Morgen hinterliess Ida an der Rezeption eine Nachricht für Georg, kaufte Leinwand, eine Staffelei, Farben, Pinsel und Terpentin, lud alles in ihren Wagen und fuhr damit zum Olivenhain. Den ganzen Vormittag arbeitete sie an dem Bild und hatte das Gefühl, nie glücklicher gewesen zu sein. All die Jahre hatte sie Peters Art, zu malen, zu ihrem Massstab gemacht. Endlich hörte sie wieder ihre eigene Stimme. Ihre künstlerische Fähigkeit brach hervor wie ein Fluss, der lange Zeit unterirdisch verlaufen war und nun wieder an die Oberfläche kam. Sie war derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht merkte, dass Georg neben sie getreten war.

“Wunderbar”, sagte er leise und mit Nachdruck.

“Es ist noch längst nicht fertig, aber danke”, gab sie zurück.

“Einen guten Maler erkennt man daran, wie er das Bild anlegt, und dieses hier ist meisterhaft angelegt.”

Sie erinnerte sich wieder an Peters missbilligen Blick, als sie damals ihr letztes Bild in seinem Atelier malte. Dieser Blick hatte ihre ganze Schöpfungskraft getötet, sie hatte nicht weiterarbeiten können. Jetzt begriff sie, dass Peters Missbilligung in Wirklichkeit nicht dem Bild galt, sondern der Tatsache, dass sie sich mit etwas anderem beschäftigte als mit ihm. Mit Georgs Blick auf dem Bild konnte sie hingegen malen, er beflügelte sie.

Endlich legte sie aufatmend den Pinsel aus der Hand, trat einen Schritt zurück und sagte: “Das wär’s für heute. Ich fühle mich leer, aber es ist ein gutes Gefühl.”

Georg trug die Staffelei und die Farben, sie das Bild bis zu ihrem Auto. Seines stand gleich daneben.

Als alles verstaut war, fragte sie: “Und Sie?”

Er wusste sofort, wovon Sie sprach: “Ich wachte heute früh mit dem unwiderstehlichen Drang, zu schreiben, auf. Mein Kopf war voller Ideen. Ich habe sie notiert. Das kleine Heft, das ich bei mir hatte, reichte kaum aus, ich werde mir ein grösseres besorgen müssen.” Er strahlte sie an: “Wie wär’s, wenn wir zum Essen nach Sienna führen? Darf ich Sie einladen?”

Sie fanden eine malerische Trattoria, liessen sich das ausgezeichnete Essen und den köstlichen Chiantiwein munden und sprachen angeregt über Malerei und Literatur, als Idas Blick auf eine Frau fiel, die ein paar Tische weiter von ihnen entfernt sass. Sie war klein und zierlich, eine Frau, die in jedem Mann den Beschützerinstinkt wecken musste, darüber hinaus mit erlesenem Geschmack gekleidet und hinreissend schön mit ihrem wie Rabenflügel glänzenden Haar, ihren glutvollen Augen und dem sinnlichen Mund. Leise sprach sie auf den Mann ein, der ihr gegenüber sass und sie hingebungsvoll ansah.

“Georg”, sagte Ida leise, “drehen Sie sich einmal unauffällig um. Da sitzt ein Paar. Eine schönere Frau habe ich noch nie gesehen …”

Es war die Malerin, die da sprach, aber als Georg sich einen Augenblick später umwandte und verblüfft murmelte: “Man würde meinen, eine Zwillingsschwester von Larissa”, durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Zumal diese Frau jetzt Georg direkt in die Augen sah und unglaublich süss und verlockend lächelte. Würde Georg, würde überhaupt ein Mann diesem Lächeln, das ein einziges Liebesversprechen war, widerstehen können? An dem brennenden Schmerz, den Ida empfand, merkte sie, dass sie sich in Georg verliebt hatte. Und im selben Moment kam ihr zu Bewusstsein, wie aussichtslos diese Liebe war. Verglichen mit dieser Frau, mit allen Larissas der Welt, kam sie sich hölzern und unattraktiv vor.

Die Zeit, in der Georg und diese fremde Frau sich ansahen und massen, schien eine Ewigkeit zu dauern. In Wirklichkeit waren es nur ein paar Sekunden, dann kehrte Georgs Blick zu Ida zurück.

“Ida, was ist denn? Sie sind ja ganz blass”, erschrak er und berührte ihre Hand. “Und Sie frieren!” Sofort umschloss er ihre beiden kalten Hände mit seinen warmen, grossen Händen.

Mit zittriger Stimme fragte sie: “Und? Wie finden Sie sie?”

Er lachte ein bisschen: “Wunderschön.” Dann wurde er wieder ernst: “Aber Sie sind noch schöner, Ida. Ihr blondes Haar, Ihre zarte Haut, Ihre farbbeklecksten Finger, selbst Ihre Nase, die anfängt zu pellen. Und Ihr Herz. Vor allem Ihr Herz. Sie würden nie etwas zerstören, Ida. Der Mann, der dieser Frau gegenübersitzt, ist ihr völlig verfallen. Dieser Mann, das war ich vor noch nicht allzu langer Zeit. Er tut mir aufrichtig leid.” Er lächelte nachdenklich: “Ich kann es nicht mehr begreifen. Es ist gut, dass ich das gesehen habe, denn jetzt weiss ich, dass ich immun geworden bin gegen solche Kreaturen.”

Tatsächlich entdeckte sie keine Qual, keine Sehnsucht in seinen grauen Augen. Nur Offenheit und Sorge um sie, Ida. Sie fühlte, wie ihre Hände wieder warm wurden und seufzte tief und wohlig auf.

“Ich habe noch etwas begriffen”, fuhr er leise fort: “Ich liebe dich, Ida. Und diesmal ist es wahre Liebe, da bin ich mir ganz sicher.”

Sie hatte Tränen in den Augen, Tränen der Erleichterung und des Glücks. “Ich liebe dich auch, Georg, und ich habe es auch gerade eben erst entdeckt.”

Wie gut es tat, auf diese Weise zu lieben. Es war wie sanfter Regen auf Humusboden. Dass es auch sehr körperlich war, merkte Ida an dem unglaublich süssen Verlangen, das sie durchströmte, als Georg sich über den Tisch beugte und sie unendlich zärtlich küsste …

ENDE


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