Drei unzertrennliche Freunde

DIE GIER. EINE DER SCHLECHTESTEN EIGENSCHAFT DES MENSCHEN, DIE ES SELBST IM SOZIALISMUS MEHR ALS NUR EINMAL SCHAFFTE, SO MANCH EINEN KAIN ZUM BRUDERMÖRDER ZU MACHEN.
Vincent Deeg
Achim, Julia und Martin kannten sich bereits seit ihrer Kindheit. Sie hatten zusammen im Sandkasten gespielt und waren später, wenn sie nicht gerade in einem der Obstbäume der Nachbarschaft saßen, um deren verbotene und immer besser als im eigenen Garten schmeckende Früchte zu plündern, gemeinsam zu ihren stets aufregenden Abenteuern in den umliegenden Kiefernwäldern aufgebrochen. Dort, wo sie dann den ganzen Tag lang im dichten Unterholz Verstecken und auf den großen und hellen Lichtungen Cowboy und Indianer oder was ihnen sonst noch so einfiel spielten.
Drei Freunde, ja man konnte beinahe sagen, drei Geschwister, die nichts und niemand auf der Welt trennen konnte. Die zusammen hielten, wenn einer von ihnen oder alle drei etwas angestellt hatten und die für einander da waren, wenn es einem von ihnen nicht gut ging oder er Sorgen hatte. So war es, als Achims Mutter, gerade war der Junge zwölf Jahre alt geworden, nach einer langen und unheilbaren Krankheit starb und Ihren Ehemann und ihren kleinen Sohn zurückließ und auch, als Achims Vater zehn Jahre später von einer Geschäftsreise nach Ungarn, die er zur Flucht nach Österreich nutzte, nicht zurück kehrte.
Auch in diesem Moment hielten die drei Freunde, inzwischen war aus Julia und Martin ein Paar geworden wie Pech und Schwefel zusammen. Das jedoch war, wie man sich heute sicher vorstellen kann, bei weitem nicht einfach. Ging es doch hierbei nicht mehr um einen beschädigten Gartenzaun, um eine eingeworfene Fensterscheibe oder um irgendwelche geraubten Äpfel, Birnen oder Kirschen. Nein. Nun ging es darum, dass Achims Vater durch seine Flucht in den Westen die DDR, ja die Arbeiterklasse und alles, was damit verbunden war verraten hatte. Vor allem aber darum, dass neben Achim auch Julia und Martin, die wie ihr Freund im engen Kontakt zu diesem Mann standen, durch dessen Tat ins Visier der Staatssicherheit geraten waren.
Es war dasselbe Ministerium, das jeden von ihnen über ein halbes Jahr lang beschatten ließ, beinahe täglich verhörte und ihnen mit allerlei Schikanen versuchte, das Leben zur Hölle auf Erden zu machen.
*
Zur Hölle auf Erden. So konnte man es nennen, das sich von da an um die drei herum abspielte. Denn abgesehen von den, in ihren grauen Windjacken gekleideten Männern, die sie auf Schritt und Tritt beobachteten, die auf der Straße hinter ihnen liefen, die im Café an einem Tisch in der Nähe saßen und so taten, als würden sie Zeitung lesen, die in der Nacht auf der anderen Straßenseite standen und das Haus beobachteten, deren Zigarettendunst man noch lange riechen konnte, wenn man am Abend die Wohnung betrat und die auf der Arbeit in Form eines Kollegen an der selben Werkbank arbeiteten oder das Regal daneben mit Waren auffüllten, abgesehen von den ständigen und oft stundenlang dauernden Befragungen, zu denen man sie, „zur Klärung eines Sachverhaltes“, wie man sich jedes Mal ausdrückte, nicht nur am Tage, sondern auch mitten in der Nacht holte, ja abgesehen davon gab es eine Menge Dinge, mit denen man Achim, Julia und Martin das Leben schwer machte.
Dinge, zu denen unter anderem gehörte, dass man Achims Personalausweis einzog und gegen einen PM12* eintauschte, der es ihm von nun an verbot, seinen Heimatort und sei es auch nur, um für ein oder zwei Tage nach Berlin oder an die Ostseeküste zu fahren zu verlassen oder dass man Julia, die seit ihrer frühen Kindheit eine Tierärztin werden wollte, den bereits zugesagten Studienplatz verwehrte oder dass man Martin, was, wie man sich vielleicht vorstellen kann, in seinem Betrieb zu diversen und unschönen Gerüchten führte, noch häufiger bei der Staatssicherheit erscheinen ließ, als es bei seinen und in zwischen ebenso gemiedenen Freunden der Fall war.
*
Etwas über ein halbes Jahr lang dauerte dieser Spuk an. Dann hörte er, zumindest, was die allgewärtige Bespitzelung und die ständigen Verhöre betraf, ganz plötzlich auf.
Hatte das Ministerium für Staatssicherheit das Interesse an diesen Zielpersonen verloren? War man vielleicht zu der Erkenntnis gekommen, dass von Achim, Julia und Martin nichts ausgehen würde, das den Gesetzen der DDR widersprach? Eine Frage, die sich die drei, als sie eines Tages bemerkten, dass man sich kaum noch für sie zu interessieren schien, auch keine Antwort geben konnten. Doch was wäre gewesen, wenn sie eine Erklärung für das plötzliche Fehlen der grauen Herren auf der Straße oder am Tisch neben ihnen oder das für ebenso plötzlich Ausbleiben der ständigen Verhöre gefunden hätten?
Vermutlich nichts. Denn Achim, Julia und Martin hatten längst einen Entschluss gefasst, der all diese furchtbaren Erlebnisse zur Zweitrangigkeit verurteilte. Es war der Entschluss, dieses Land, diese DDR, deren Büttel und Lakaien ihnen soviel Böses angetan hatten, zu verlassen. 
*
Es war Martin, der als erster mit dieser Idee heraus platzte. „Lasst uns endlich von hier abhauen. In den Westen. Wo wir wie Menschen und nicht wie Vieh behandelt werden.“ Hatte er seinen Freunden leise entgegen gezischt, als sie wieder einmal im Garten des Bürgerhauses bei ein paar Gläsern Bier zusammen saßen. Dort, wo sich Achim und Julia, deren Gedanken längst in dieselbe Richtung ging, die sich jedoch bis dahin nicht getraut hatten, diesen dem anderen gegenüber auszusprechen, schweigend ansahen, die wie zum Treueschwur weit über den Tisch ausgestreckte Hand ihres Freundes ergriffen und mit einem beinahe gleichzeitigen Kopfnicken zustimmten.
Damals, in diesem Biergarten ahnten sie nicht, dass dieser Entschluss nicht nur ihre lange Freundschaft für immer zerstören, sondern auch für einen von ihnen tödlich enden würde. Eine Ahnungslosigkeit, die sich jedoch, als es dann so weit war, in ein furchtbares Wissen verwanden sollte.
Es war die Nacht vom 21. zum 22. Juni 1984, als Achim, Julia und Martin über die grüne Grenze in die BRD fliehen wollten. Die Nacht, in der die drei plötzlich, so als hätte man sie bereits erwartet, von Grenzsoldaten umzingelt, im grellen Licht der Scheinwerfer standen. Die Nacht, in der einer der nervösen und ununterbrochen schreienden Soldaten das Feuer eröffnete und Julias Leben mit einer Salve aus seinem russischen AK47 Sturmgewehr, die die junge Frau in die Brust traf und ihre Lunge zerfetzte beendete. Die Nacht, in der man, während ein paar Soldaten den leblosen Körper ihrer Freundin mit einer Decke bedeckten und davon trugen, Achim mit Gewehrkolben zusammen schlug, um ihn im Anschluss, als man damit fertig war, also keine Lust mehr hatte, gemeinsam mit Martin in einen herbei gerufenen Militär LKW zu werfen, der in schneller Fahrt mit seinen Opfern und deren Bewacher davon fuhr.
*
Es war nicht nur das letzte Mal, dass Achim, den man später zu einer Gefängnisstrafe von insgesamt drei Jahren und fünf Monaten verurteilte, welche er, abgesehen von der Zeit, die man ihn in der Stasi U-Haft  Andreasstrasse in Erfurt behielt, in dem schon damals berüchtigten Stasi Gefängnis Bautzen 2 verbrachte, seine Freundin Julia gesehen hatte, sondern auch das letzte Mal, dass er etwas von Martin hörte.
Erst mit dem Fall der Mauer 1989, vor allem aber mit der drei Jahre später ermöglichten Einsicht in seine umfangreiche Stasiakte lüftete sich der Schleier um seinen damaligen Freund. Und um dessen unfassbare Tat. Erst da erfuhr er, warum das Ministerium für Staatssicherheit die Beschattungen der drei damals so plötzlich einstellte. Dass dies nicht etwa eine Folge eines mangelnden Interesse war, sondern dass die Stasi einen besseren, wesentlich einfacheren und effektiveren Weg gefunden hatte, an die nötigen Informationen zu gelangen. Und dieser Weg hieß Martin.
Nun erst erkannte Achim, warum sein Freund so viel häufiger zur Stasi zitiert wurde, als er und Julia. Und auch, warum man während ihrer Verhaftung an der Grenze nur ihn, nicht aber Martin zusammen schlug. Weil er sich zu einem Stasispitzel hatte machen lassen, der sie, wie aus den Unterlagen hervor ging, für ein paar lumpige hundert Mark nicht nur verraten, sondern auch in diese Falle gelockt hatte. Eine Falle, die Julia am Ende tötete.
**
Achim wohnt heute bei seinem Vater in Bremen. Er hat bis weder seine Freundin, diese furchtbaren Ereignisse, noch den Verräter Martin vergessen, der Julias zu verantworten hat und gegen den er kurz nach der Einsicht seine Stasiakte einen Strafantrag stellte.
Und Martin? Er bleibt, da bis heute nicht auffindbar weiterhin ungestraft.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von Achim erzählt. Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.
*siehe Die Lüge „Amnestie“ und Gebrandmarkt

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