DIE TOTE STADT von Erich Wolfgang Korngold in Kassel – Dead woman walking

DIE TOTE STADT von Erich Wolfgang Korngold in Kassel – Dead woman walking

Brügge. Stadt in Belgien. Hauptstadt der Provinz Westflandern. Spielort des tragikomischen Films "Brügge sehen... Und sterben?" mit Colin Farrell. Und sonst? Ach ja, laut dem Autor Georges Rodenbach eine tote Stadt. Dabei geht es in seiner Erzählung und auch in der auf ihr basierenden Oper von Erich Wolfgang Korngold gar nicht um das Bashing einer vermeintlich langweiligen und öden Gemeinde, sondern um eine tote Frau, die an diesem Ort betrauert wird. Paul heißt der arme Tropf, dessen geliebte Ehefrau Marie jung gestorben ist und der sich in dieser spätromantischen, gewaltig-sinnlichen Oper in eine groteske Geschichte von Sehnsucht, Trauer und Besessenheit verstrickt. Am Staatstheater Kassel hat nun Regisseur Markus Dietz daraus ein albtraumartiges Kammerspiel am buchstäblichen Rande des Abgrunds gemacht.

Nur einen Schritt entfernt

Beim Betreten des Zuschauerraums fällt auf, dass mir der gewohnte Blick auf das Orchester verwehrt bleibt. Ein monströser Vorhang erstreckt sich über die gesamte Breite des Grabens. Mit Beginn der Vorstellung wird klar, warum diese Lösung nötig ist. Das Bühnenbild von Mayke Hegger ist ein trichterförmiger Raum, der den Orchestergraben als Zentrum hat und dessen weiße Seitenwände bis in die Vorhanggassen (die deswegen nicht in üblicher Weise zu benutzen sind) hineinragen. Die Darsteller bewegen sich auf Stegen links und rechts vom Orchester sowie auf einem etwas breiteren Steg zwischen Orchestergraben und Zuschauerraum. Weitere Spielmöglichkeiten erstrecken sich in der Verlängerung des Trichters in die Tiefe des Bühnenraums, der anfangs von einer Leinwand mit vorgesetzter puristischer Regalkonstruktion verdeckt wird.

So ergeben sich nicht nur Situationen von großer Nähe und Intimität, sondern auch Möglichkeiten der Darstellung von unterschiedlichen (Wirklichkeits-)Ebenen. Wenn dann beispielsweise Paul in panischer Erregung auf den schmalen Stegen rund um den Orchestergraben rennt, um zum Objekt seiner Begierde und Besessenheit zu gelangen, schwingt immer die reale Sorge eines möglichen Stolperns oder gar eines Sturzes in die nicht zu unterschätzende Tiefe des Orchestergrabens mit.

Die tote Frau

Die zentrale Idee der Inszenierung von Markus Dietz ist die Darstellung der toten Marie durch eine Schauspielerin. Sie ist fast immer präsent - manchmal nur als Symbol seiner lebendigen Erinnerung, manchmal sogar aktiv am Geschehen beteiligt. Man kann diesen Einfall gut oder schlecht finden, man kann ihn plakativ und banal finden oder sinnlich und bühnenwirksam. In jedem Fall ist er konsequent bis zum Ende durchdacht und durchgeführt. Jenseits jeder Geschmacksentscheidung ein Merkmal guter Regiearbeit. Und wer die Oper Die tote Stadt von Korngold bereits in anderen Inszenierungen erleben durfte, wurde zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, ob Pauls Hantieren mit Bildern der Verstorbenen wirklich genug über deren Beziehung erzählen kann oder ob sein innerer Zwiespalt allein durch die schauspielerische Leistung seines Darstellers verdeutlicht werden kann. Wieso also nicht auf der Bühne das zeigen, was für Paul in seinem Trauerwahn ohnehin Wirklichkeit ist. Das Schwelgen in Erinnerungen und Fantasien von Maries Meinung, von Maries Gesicht, von Maries Kuss, von Maries Berührungen.

Ihre Eifersucht ist so gesehen sein schlechtes Gewissen, ihre Bösartigkeit gegenüber Marietta seine Selbstbestrafung, ihr blutüberströmter lebloser Körper seine Befreiung vom Bann der Erinnerung an sie.

Lasst die Toten ruhen

Dass diese tote Marie nicht nur das Bild einer Idealfrau ist, sondern zwischendurch plötzlich zu einer diabolischen Furie mutiert, zeigt, wie ernst Regisseur Markus Dietz Pauls Seelenleben genommen hat. Marie ist in seiner Inszenierung keine eindeutige Figur und sicherlich auch nicht ein Abbild der verstorbenen Ehefrau. In ihr spiegeln sich alle Ängste, die Trauer und auch die Wut des alleingelassenen Mannes wider. In einer albtraumhaften Zeremonie ist es ihr Körper, der als Märtyrer ans Kreuz genagelt und von einer blutrünstigen Gemeinde vergöttert wird.

Ein Symbol für Pauls missgeleitete Vergötterung des Andenkens an sie. Zuletzt gelingt es ihm, sich von diesem Trugbild zu lösen. Mit letzter Kraft stößt er sie von sich und torkelt in seine ungewisse Zukunft.

Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold am Staatstheater Kassel in der Inszenierung von Markus Dietz ist eine durchweg erlebenswerte Vorstellung. Eine derart sinnliche und klare Bildsprache, der es trotzdem nicht an Vielschichtigkeit fehlt, wünsche ich mir für viele weitere Opernabende.

Kritik der Frankfurter Rundschau vom 27. April 2016 Kritik der Hessischen Niedersächsischen Allgemeine vom 24. April 2016 Kritik auf www.oper-aktuell.info vom 23. April 2016 Kritik auf www.omm.de Die tote Stadt. Oper in drei Bildern von Erich Wolfgang Korngold (UA 1920 Hamburg / Köln)

Staatstheater Kassel
Musikalische Leitung: Patrik Ringborg
Regie: Markus Dietz
Bühne: Mayke Hegger
Kostüme: Henrike Bromber
Choreographische Mitarbeit: Lillian Stillwell
Video: Michael Lindner
Dramaturgie: Jürgen Otten

Besuchte Vorstellung: 23. April 2016 (Premiere)


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