Die Symbolik des Brunnens und die emotionale Welt Schuberts

Während der Komposition des Allheilmittels kam mir immer wieder das Bild des Brunnens in den Sinn. Ich habe kurzzeitig sogar erwogen, das Stück nach einem der mythologischen Brunnen zu benennen – aber dann fand ich „Hvergelmir“ oder „Urð“ doch eine Spur zu sperrig. Drum habe ich mich letztendlich für jene Brunnen entschieden, die man ganz am Rande der Welt findet; jene wundersamen Allheilquellen, aus denen man nur einen Tropfen zu trinken braucht, um jung, gesund, unverwundbar und unsterblich zu werden…

Zwei BrunnenDas Faszinierende am Brunnen ist seine Doppelgesichtigkeit. Es gibt auf der einen Seite die Springbrunnen, die sprudelnden Fontänen, die kunstfertig kaskadierenden Wasserspiele. Hier haben wir das reine Leben, das Spiel, die Leichtigkeit, die Freude, die Virtuosität. In den Fontane di Roma oder den Jeux d’eau haben sie ihren musikalischen Ausdruck gefunden.

Auf der anderen Seite stehen die tiefen, alten Ziehbrunnen, die seit jeher als Jenseitssymbol gelten. Die dunklen Tiefen stehen für die Unterwelt, für die unbewussten, schattenhaften Aspekte des Daseins, für die verlorene Vergangenheit und die unbekannte Zukunft. In der Tiefe des Brunnens wohnen die Nornen, die Najaden und Frau Holle – und wer hineinspringt wie die Goldmarie, begibt sich auf mythische Jenseitsreise und kommt verwandelt wieder zurück.

Beide Varianten des Brunnens gehören zusammen – es ist immer dasselbe Wasser. Schon Notker der Stammler wusste, dass „mitten wir im Leben sind mit dem Tod umbfangen“.

Während mich die sprudelnden, glitzernden, virtuosen Brunnen in den letzten Jahren künstlerisch und theoretisch schon viel beschäftigt habe, lagen mir die dunklen Jenseitsbrunnen viel ferner. Ich sah schlicht keine Möglichkeit, mit den mir zu Gebote stehenden musikalischen Mitteln – oder mit denen der Neuen Musik insgesamt – ernsthaft diese Region des menschlichen Lebens auszuloten.

Die wichtigste musikalische Bezugsfigur war für mich in diesem Bereich immer Franz Schubert. Sooft ich Schubert zuhöre, zieht er mich in den Brunnen hinab – er lullt mich ein, wiegt mich in den Schlaf, entführt mich wie Frau Holle, schildert mir fremde, vergangene, geträumte Welten, lässt mich traurig werden, weil ich ihnen fern bin, lässt meine Sehnsucht anschwellen, macht mich glücklich und unglücklich zugleich, zerteilt mich in Liebe und Schmerz.

Es gibt keinen anderen Komponisten, der dies alles in dieser Intensität mit mir tut. Seit jeher war es für mich ein Rätsel, wie Schubert das schafft. Und ich litt daran, dass ich das nicht schaffte. Bereits vor zwei Jahren habe ich an dieser Stelle darüber geschrieben.

Meine damalige Idee, die verschleierte Schönheit, die durch den Wasserspiegel schemenhaft sichtbarwerdende unterirdische Blumenwiese, durch verstimmte Klaviere zu beschwören, habe ich jetzt in meinem Allheilmittel weiterverfolgt.

Das Steiner Klavier

Das Steiner Klavier

Ich hatte das Glück, dafür auf ein ganz besonders schönes verstimmtes Klavier zurückgreifen zu können. Es stand jahrzehntelang bei meinen Großeltern in der bayerischen Ortschaft Stein an der Traun und verfiel.

Es ist sehr stark verstimmt und klingt momentan etwa eine kleine Terz zu tief. Die Tasten quietschen, sie sind extrem schwergängig, es gibt keine Anschlagsdynamik mehr. Die einzelnen Töne unterscheiden sich stark. Manche klingen fast rein, andere schwebend, andere zweistimmig oder glockenartig mehrstimmig. Jeder Ton hat einen ganz individuellen Charakter. Man kann den Part, den ich für dieses Klavier komponiert habe, nicht transponieren, ohne ihn zu zerstören.

Ein ehemaliger Schulkollege, der Pianist und Tonmeister Robert Lenzbauer, hat das Klavier vor einigen Jahren gesampelt. Es handelt sich sozusagen um eine digitale Momentaufnahme des analogen Verfalls – denn das Klavier verfällt weiter, und einige Tasten lassen sich kaum mehr niederdrücken. In ein paar Jahren wird das Klavier anders klingen, und irgendwann wird es gar nicht mehr spielbar sein.

Als Sample-Instrument ist es nun Teil des Hyperklaviers geworden. Während die anderen Hyperklavier-Techniken wie Akkordbooster, Tastenglissandierer etc. die virtuose Seite des Brunnens erkunden, lotet das Steiner Klavier die Tiefen des Jenseitsbrunnens aus.

Hier die ersten Takte des Klaviersolos aus dem Allheilmittel:

Ausschnitt aus dem Allheilmittel

Ausschnitt aus dem Allheilmittel

Das Orchester nimmt in der Folge die Pulsation auf. Ähnlich wie das verstimmte Klavier die Dur- und Moll-Dreiklänge durch einen Schleier zeigt, zeigt das Orchester die Pulsation in einer verschwimmenden Überlagerung von Quintolen und Quartolen. Die Regelmäßigkeit ist ahnbar, aber nie greifbar. Sie schimmert hinter dem Wasserspiegel.

Natürlich kommt die Pulsation nicht von ungefähr. Sie ist (zusammen mit der Varianten- und Mediantenharmonik) eins der wichtigsten Stilmittel Schuberts. In Stücken wie dem letzten Satz seiner A-dur-Sonate D 959 oder in Des Baches Wiegenlied wiegt und pulst es fast ununterbrochen. Während die Harmonik sich trübt und aufhellt, während das Paradies näher- und ferner rückt, während der Müllersbursche tot im Bach liegt, plätschern die Wellen unbekümmert weiter – sie wiegen, liebkosen uns, als ob nichts wäre, in den Schlaf, in den Tod…

Es ist eine fast naiv anmutende, in Wahrheit aber zutiefst komplexe und abgründige Dialektik zwischen Schönheit und Zerstörung, Gleichmaß und Irreversibilität, Kindheitstraum und Zynismus. Schubert erweckt durch das konstante Pulsieren den Eindruck, als würde nichts passieren – und gleichzeitig zieht er uns in harmonischer oder formaler Hinsicht den Boden unter den Füßen weg. Gerade noch sinnend am Rande des Brunnens stehend, den Blick versenkt in den gekräuselten, dunklen, endlosen Wasserspiegel, finden wir uns urplötzlich mitten im Strudel wieder…

Ich will keinen falschen Eindruck erwecken. Nur ein kleiner Teil des Allheilmittels spielt sich am Grunde des Brunnens ab. Es ist kein kontemplatives, sondern in weiten Teilen ein tobendes, tosendes, schwelgendes, überquellendes Werk. Doch mir war es wichtig – wichtiger noch als früher – die gesamte Bandbreite des menschlichen Daseins im Blick zu haben. Die vielschichtige Symbolik des Brunnens, die uns von den unauslotbarsten Tiefen bis zu den hochschießendsten Fontänen führt, schien mir da überaus passend.

Denn die Jenseitsreise ist lang. Allheilquellen gibt es nur am alleräußersten Rand der Welt. Sie sind verborgener als die Gralsburg.

Ob die untenstehende Karte noch aktuell ist, weiß niemand.

Fundstellen von Allheilquellen (violett, historisch)

Fundstellen von Allheilquellen (violett, historisch)


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