Die Sprachdebatte ist verstummt

Gastbeitrag von Jolanda Spirig. Der Beitrag wurde erstmals (2000) im Ostschweizer Kulturmagazin saiten veröffentlicht. Obwohl der Text bereits vor mehreren Jahren geschrieben wurde, bleibt die Debatte über Gleichberechtigung in der Sprache aktuell.  Ausgerechnet Frauen finden diese Debatte überflüssig. Aber warum? Wollen wir denn nur „mitgemeint“ werden? Was ist wenn wir die Deutsche Sprache einfach mal „umkehren“ und von heute an die weibliche Form verwenden und die Männer mitmeinen? Wenn ein Kind in der Schule „der Arzt“ und „der Pilot“ lern, dann stellt dieses Kind sich doch keine Frau vor? Oder „der Präsident“. Dabei ist es doch wichtig, dass auch Mädchen in ihren Visionen bestärkt werden. Dass sie sich als Beruf nicht nur (und das soll hier nicht abschätzend interpretiert werden) Kindergärtnerin oder Friseurin vorstellen können. Natürlich, immer öfter gibt es heute Frauen in Männerdomänen, aber der Weg ist noch weit. Wir bedanken uns bei Jolanda Spirig, dass sie uns ihren Text zur Verfügung gestellt hat. So könnt ihr selber feststellen, wie viel oder auch wie wenig im Hinblick auf die „Gleichberechtigung in der Sprache“ gemacht wurde. 

Die öffentlichen Debatten zur geschlechtergerechten Sprache, in den achtziger und frühen neunziger Jahren mit viel Herzblut und noch mehr Häme geführt, sind verstummt. In der Verwaltung und in Gesetzestexten ist sprachliche Gleichbehandlung mancherorts, aber nicht überall zur Routine geworden. Was im öffentlichen Sprachgebrauch teils selbstverständlich, teils zähnknirschend vollzogen wird und bei Leuten mittleren Alters, je nach Umfeld, zum guten Ton gehört, hat sich in der Alltagssprache der jungen Generation im Sand verlaufen: Junge Leute bis 25, die die Sprachdebatten nicht mitbekommen haben, wissen meist von nichts. Die Sensibilität für weibliche Sprachformen ist kaum vorhanden.

Weibliche Schüler

Die Schule hat den Sprachwandel nicht oder nur halbherzig vollzogen. Es ist zwar oft und gerne die Rede von Lehrkräften, Lehrpersonen und Lehrenden, doch sind die Schüler weitestgehend Schüler geblieben, auch wenn sie weiblich sind. Dass nicht wenige Schul- und Uni-Abgängerinnen von sich in der männlichen Form sprechen, verwundert somit nicht. Die sprachbewussten Frauen mögen die energieaufwändige Debatte nicht mehr führen, andere wähnen sich mitgemeint, wie vor der Sprachdebatte, und denken, es wäre schon immer so gewesen.

Weit gefehlt: Das frühe Mittelalter war uns im sprachlichen Bereich voraus. In den überlieferten Texten kommen gemäss Annette Kuhns „Chronik der Frauen“ die Menschen stets zweigeschlechtlich vor. Es ist die Rede von „Bauer und Bäuerin“ oder „Leser und Leserin“. Dies änderte sich erst im neunten Jahrhundert, als sich die kirchliche Gesetzgebung zu behaupten begann. Lesen und Schreiben war damals noch keine Männerdomäne, vielmehr galten diese Tätigkeiten bis zum 12. Jahrhundert als „pfäffisch und weibisch“.

Von der „Kauffrau“ zur Prostituierten

Die Bezeichnung „Kauffrau“ war im Mittelalter gang und gäbe und hatte Eingang in die Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts gefunden. Nach 1950 wurde unter einer „Kauffrau“ allerdings kein weiblicher Kaufmann mehr verstanden, sondern eine „weibliche Person, deren geschlechtliche Leistungen man bezahlt“, also eine Prostituierte. Soweit Heinz Küppers „Illustriertes Lexikon der deutschen Umgangssprache“.

In Schillers „Maria Stuart“ ist die Rede von der „Fremdlingin“, und Franz las in den „Räubern“: „… nimmermehr würde meine unschuldige Feder an dir zur Tyrannin geworden sein“. Die Erstausgabe des Tages-Anzeigers“ vom 2. März 1893 wandte sich im Editorial an die „verehrlichen Leserinnen und Leser“, und 1918 war sprachliche Gleichberechtigung in Schweizer Reisepässen selbstverständich. Eine Selbstverständlichkeit, die Ende des 20. Jahrhunderts wieder mühsam erkämpft werden musste. Vor hundert Jahren nahmen selbst die Schulzeugnisse Schülerinnen und Lehrerinnen sprachlich wahr: für weibliche und männliche Endungen blieb im Vordruck Platz ausgespart. Es hiess damals „Schüler…“ oder „D… Lehrer….“. In den sechziger Jahren waren Lehrerinnen und Schülerinnen dann nicht mehr vorgesehen.

Gesellschaftliche Höherbewertung

Was war geschehen? Steckt die Normierungskraft des Dudens dahinter oder hatte das starke Aufleben des bürgerlichen Familienmodells in der Zwischen- und Nachkriegszeit die sprachliche Vereinnahmung der Frauen bewirkt? Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden die Frauen in ihren Nischen. Öffentlichkeit und Wirtschaftsleben wurden mehr denn je zur Männerdomäne. Die wenigen Frauen, die sich da hineinwagten, passten sich vollkommen an. Empfindlichkeit war nicht am Platz, und sie ist es auch heute nicht. Selbstverständlich fühlten sich diese wenigen Frauen durch die männlichen Sprachformen angesprochen, ja sogar ausgezeichnet. Sie machten sich die gesellschaftliche Höherbewertung des Männlichen zunutze und vollzogen sie dadurch mit.

Dabei ist das Mitgemeintsein der Frauen in der Männersprache in der Vergangenheit höchst unterschiedlich und immer zuungunsten der Frauen ausgelegt worden. So etwa beim ehemaligen Artikel 4 der Bundesverfassung: „Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich.“ Seit 1833 hatten Frauen mit Grundbesitz das Stimmrecht in den Berner Gemeinden. Zwar mussten sie sich in den Gemeindeversammlungen durch einen Mann vertreten lassen, doch hatte er seine Stimme gemäss ihrem Auftrag auszuüben. Im Jahre 1887 wies der Regierungsrat des Kantons Bern die Gemeinden an, keine Frauen mehr zum Stimmrecht zuzulassen, da dies gegen den Grundsatz „Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich“ verstosse. Man könne nicht den Bernerinnen gestatten, was den übrigen Schweizer Frauen verwehrt sei. Sprachlich waren die Schweizerinnen hier offenbar mitgemeint.

Über „Herrenausstatter“ zum politischen Erfolg

Anders bei der Klage der ersten Juristin Europas, Emily Kempin-Spyri: Als sie sich um das Anwaltspatent bewarb, das an die Aktivbürgerschaft gebunden war, und sich dabei auf Artikel 4 berief, argumentierte das Bundesgericht, die Interpretation des Begriffs „Schweizer“ als „Mann und Frau“ sei „ebenso neu als kühn“. Auch dieser Entscheid fiel 1887. Die gleiche Abfuhr erlitten sieben Waadtländerinnen, als sie 1957 aufgrund von Artikel 4 das Stimmrecht beantragten. In den fünfziger Jahren waren sie in der männlichen Formulierung nicht mitgemeint – und heute?

Die Ungewissheit scheint vorbei: Von trendigen jungen Männern werden Frauen wieder klar und deutlich ausgeklammert. Beim Erfolgsautor Florian Illies („Generation Golf“) zum Beispiel führt der Weg zum politischen Erfolg in direkter Linie über den „Herrenausstatter“, wie er in einem Interview vor kurzem zu Protokoll gegeben hat.

Ein aktueller Beitrag ist in der ZEIT online erschienen: „Es ist eine Frage der Zeit, bis wir bei der Geburt kein Geschlecht mehr zugewiesen bekommen“ von Lann Hornscheidt

Literatur:

Marit Rullmann u.a.: „Philosophinnen – von der Antike bis zur Aufklärung“, eFeF-Verlag, 1993

Annette Kuhn: „Die Chronik der Frauen“, Harenberg Verlag, 1992

Bildlegende: Weibliche Sprachformen im Reisepass und im Schulzeugnis um 1920

© Jolanda Spirig (publiziert im Ostschweizer Kulturmagazin saiten, Oktober 2000)


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